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Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

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Aber die Herzogin wandte sich zu Ekkehard, der träumerisch in
das Gewimmel der Thierwelt schaute: Einverstanden? frug sie. Er
fuhr auf: O Herrin! sprach er mit weicher Stimme, wer ist so ver-
messen, unter dem, was da kreucht und fleugt, ein Sinnbild für Euch
zu suchen?

Wenn Wir's aber verlangen ...

Dann weiß ich nur einen Vogel, sprach Ekkehard, wir haben ihn
nicht und Niemand hat ihn; in klaren Mitternächten fliegt er hoch zu
unsern Häupten und streift mit den Schwingen den Himmel. Der
Vogel heißt Caradrion; wenn seine Fittige sich zur Erde senken, soll
ein siecher Mann genesen: da kehret sich der Vogel zu dem Manne
und thut seinen Schnabel über des Mannes Mund, nimmt des Man-
nes Unkraft an sich und fährt auf zur Sonne und läutert sich im
ewigen Licht: da ist der Mann gerettet.58)

Der Abt kam wieder herbei und unterbrach weitere Sinnreden.
Auf einem Apfelbaum saß ein dienender Bruder, pflückte die Aepfel
und sammelte sie in Körbe. Wie sich die Herzogin zum Schatten der
Bäume wandte, wollte er herniedersteigen, aber sie winkte ihm, zu
bleiben. Jetzt ertönte es wie Gesang zarter Knabenstimmen in des
Gartens Niederung: die Zöglinge der innern Klosterschule kamen heran,
der Herzogin ihre Huldigung zu bringen; blutjunge Bürschlein, trugen
sie bereits die Kutte und Mancher hatte die Tonsur auf's eilfjährige
Haupt geschoren. Wie sie aber in Procession daher zogen, die roth-
backigen Aebtlein der Zukunft, geführt von ihren Lehrern, den Blick
zur Erde niedergeschlagen, und wie sie so ernst und langsam ihre
Sequenzen sangen: da flog ein leiser Spott über Frau Hadwig's
Antlitz, mit starkem Fuß stieß sie den nahestehenden Korb um, daß die
Aepfel lustig unter den Zug der Schüler rollten und an ihren Ka-
puzen emporsprangen. Aber unbeirrt zogen sie ihres Weges; nur der
Kleinsten Einer wollte sich bücken nach der lockenden Frucht, doch
streng hielt ihn sein Nebenmännlein am Gürtel.59)

Wohlgefällig sah der Abt die Haltung des jungen Volkes und
sprach: Disciplin unterscheidet den Menschen vom Thier!60) und wenn
Ihr der Hesperiden Aepfel unter sie werfen wolltet, sie blieben fest.

Frau Hadwig war gerührt. Sind all Eure Schüler so gut ge-
zogen? frug sie.

Aber die Herzogin wandte ſich zu Ekkehard, der träumeriſch in
das Gewimmel der Thierwelt ſchaute: Einverſtanden? frug ſie. Er
fuhr auf: O Herrin! ſprach er mit weicher Stimme, wer iſt ſo ver-
meſſen, unter dem, was da kreucht und fleugt, ein Sinnbild für Euch
zu ſuchen?

Wenn Wir's aber verlangen ...

Dann weiß ich nur einen Vogel, ſprach Ekkehard, wir haben ihn
nicht und Niemand hat ihn; in klaren Mitternächten fliegt er hoch zu
unſern Häupten und ſtreift mit den Schwingen den Himmel. Der
Vogel heißt Caradrion; wenn ſeine Fittige ſich zur Erde ſenken, ſoll
ein ſiecher Mann geneſen: da kehret ſich der Vogel zu dem Manne
und thut ſeinen Schnabel über des Mannes Mund, nimmt des Man-
nes Unkraft an ſich und fährt auf zur Sonne und läutert ſich im
ewigen Licht: da iſt der Mann gerettet.58)

Der Abt kam wieder herbei und unterbrach weitere Sinnreden.
Auf einem Apfelbaum ſaß ein dienender Bruder, pflückte die Aepfel
und ſammelte ſie in Körbe. Wie ſich die Herzogin zum Schatten der
Bäume wandte, wollte er herniederſteigen, aber ſie winkte ihm, zu
bleiben. Jetzt ertönte es wie Geſang zarter Knabenſtimmen in des
Gartens Niederung: die Zöglinge der innern Kloſterſchule kamen heran,
der Herzogin ihre Huldigung zu bringen; blutjunge Bürſchlein, trugen
ſie bereits die Kutte und Mancher hatte die Tonſur auf's eilfjährige
Haupt geſchoren. Wie ſie aber in Proceſſion daher zogen, die roth-
backigen Aebtlein der Zukunft, geführt von ihren Lehrern, den Blick
zur Erde niedergeſchlagen, und wie ſie ſo ernſt und langſam ihre
Sequenzen ſangen: da flog ein leiſer Spott über Frau Hadwig's
Antlitz, mit ſtarkem Fuß ſtieß ſie den naheſtehenden Korb um, daß die
Aepfel luſtig unter den Zug der Schüler rollten und an ihren Ka-
puzen emporſprangen. Aber unbeirrt zogen ſie ihres Weges; nur der
Kleinſten Einer wollte ſich bücken nach der lockenden Frucht, doch
ſtreng hielt ihn ſein Nebenmännlein am Gürtel.59)

Wohlgefällig ſah der Abt die Haltung des jungen Volkes und
ſprach: Disciplin unterſcheidet den Menſchen vom Thier!60) und wenn
Ihr der Hesperiden Aepfel unter ſie werfen wolltet, ſie blieben feſt.

Frau Hadwig war gerührt. Sind all Eure Schüler ſo gut ge-
zogen? frug ſie.

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[39/0061] Aber die Herzogin wandte ſich zu Ekkehard, der träumeriſch in das Gewimmel der Thierwelt ſchaute: Einverſtanden? frug ſie. Er fuhr auf: O Herrin! ſprach er mit weicher Stimme, wer iſt ſo ver- meſſen, unter dem, was da kreucht und fleugt, ein Sinnbild für Euch zu ſuchen? Wenn Wir's aber verlangen ... Dann weiß ich nur einen Vogel, ſprach Ekkehard, wir haben ihn nicht und Niemand hat ihn; in klaren Mitternächten fliegt er hoch zu unſern Häupten und ſtreift mit den Schwingen den Himmel. Der Vogel heißt Caradrion; wenn ſeine Fittige ſich zur Erde ſenken, ſoll ein ſiecher Mann geneſen: da kehret ſich der Vogel zu dem Manne und thut ſeinen Schnabel über des Mannes Mund, nimmt des Man- nes Unkraft an ſich und fährt auf zur Sonne und läutert ſich im ewigen Licht: da iſt der Mann gerettet. ⁵⁸⁾ Der Abt kam wieder herbei und unterbrach weitere Sinnreden. Auf einem Apfelbaum ſaß ein dienender Bruder, pflückte die Aepfel und ſammelte ſie in Körbe. Wie ſich die Herzogin zum Schatten der Bäume wandte, wollte er herniederſteigen, aber ſie winkte ihm, zu bleiben. Jetzt ertönte es wie Geſang zarter Knabenſtimmen in des Gartens Niederung: die Zöglinge der innern Kloſterſchule kamen heran, der Herzogin ihre Huldigung zu bringen; blutjunge Bürſchlein, trugen ſie bereits die Kutte und Mancher hatte die Tonſur auf's eilfjährige Haupt geſchoren. Wie ſie aber in Proceſſion daher zogen, die roth- backigen Aebtlein der Zukunft, geführt von ihren Lehrern, den Blick zur Erde niedergeſchlagen, und wie ſie ſo ernſt und langſam ihre Sequenzen ſangen: da flog ein leiſer Spott über Frau Hadwig's Antlitz, mit ſtarkem Fuß ſtieß ſie den naheſtehenden Korb um, daß die Aepfel luſtig unter den Zug der Schüler rollten und an ihren Ka- puzen emporſprangen. Aber unbeirrt zogen ſie ihres Weges; nur der Kleinſten Einer wollte ſich bücken nach der lockenden Frucht, doch ſtreng hielt ihn ſein Nebenmännlein am Gürtel. ⁵⁹⁾ Wohlgefällig ſah der Abt die Haltung des jungen Volkes und ſprach: Disciplin unterſcheidet den Menſchen vom Thier! ⁶⁰⁾ und wenn Ihr der Hesperiden Aepfel unter ſie werfen wolltet, ſie blieben feſt. Frau Hadwig war gerührt. Sind all Eure Schüler ſo gut ge- zogen? frug ſie.

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Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/61>, abgerufen am 23.11.2024.