Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite
151) .. "vel, ut perturbatores reipublicae dignum est pati,
usque ad cinerem concremati et in omnem ventum dispersi
cum nominibus vel potius ignominia et memoria sua condem-
nentur in secula!" Erchanberti breviarium ad ann. 880.
bei
Pertz Monum. II. 330.
152) Die Gestalt des Alten in der Heidenhöhle möchte historisch
etwas anzuzweifeln sein. Alle Merkmale deuten auf Karl den Dicken,
aber der war eigentlich längst gestorben, bevor die erste Stunde des
zehnten Jahrhunderts schlug. Indeß, was die Geschichte trennt, fügt
die Sage wieder zusammen, und wie sie einst dem ostgothischen Dietrich
von Bern im Nibelungenlied eine Stellung verschaffte, auf die er,
seinen historischen Präcedentien nach, gar keine nachzuweisenden An-
sprüche hat, so gefällt es ihr, den letzten Träger des carolingischen
Weltreichs an einen stillen Ort zu entrücken und ihm eine Gerech-
tigkeit angedeihen zu lassen, die ihm die Mitlebenden versagten.
Eines Gerüchtes, daß der alte Kaiser nicht gestorben, sondern von
seinen Feinden strangulirt worden sei, erwähnt der Mönch von Vaast
in seinen Jahrbüchern bei Pertz Mon. II. 203. Das Volk aber, das von
ihm ein ganz ander Bild im Herzen trug, als der Haß der Parteien,
die ihn mit entstellten Zügen der Nachwelt geschildert, und das in
dem hereingebrochenen Jammer der nächsten Jahrzehnte keinen Grund
fand, seine Absetzung als den Anbruch besserer Zeiten zu begrüßen,
hielt in Alemannien an dem Glauben fest, daß er gar nicht gestorben
sei und noch, wie früher und später manch ein anderer Held, in irgend
einer Höhle verborgen sitze, um zu rechter Stunde wieder herauszu-
treten und die Zügel seines Reiches zu Handen zu nehmen. Mehrere
Aufstände in Alemannien gegen den durch Karl des Dicken Sturz
empor gekommenen Kaiser gaben Zeugniß von dem Antheil, den man
für seinen abgesetzten Vorfahr hegte.
Auch die neuere Geschichtschreibung beginnt, die wahren Gründe
der Absetzung und das seither dem dicken Kaiser zugefügte Unrecht
einzusehen, und es wird zugegeben, daß die Machinationen des hohen
Clerus, der damals mit der Einführung des pseudo-isidorischen Kirchen-
rechts in Deutschland beschäftigt war und einen seinen herrschsüchtigen
Bestrebungen willfährigen Kaiser bedurfte, "guten Theils" an jener
151) .. „vel, ut perturbatores reipublicae dignum est pati,
uſque ad cinerem concremati et in omnem ventum diſperſi
cum nominibuſ vel potiuſ ignominia et memoria ſua condem-
nentur in secula!“ Erchanberti breviarium ad ann. 880.
bei
Pertz Monum. II. 330.
152) Die Geſtalt des Alten in der Heidenhöhle möchte hiſtoriſch
etwas anzuzweifeln ſein. Alle Merkmale deuten auf Karl den Dicken,
aber der war eigentlich längſt geſtorben, bevor die erſte Stunde des
zehnten Jahrhunderts ſchlug. Indeß, was die Geſchichte trennt, fügt
die Sage wieder zuſammen, und wie ſie einſt dem oſtgothiſchen Dietrich
von Bern im Nibelungenlied eine Stellung verſchaffte, auf die er,
ſeinen hiſtoriſchen Präcedentien nach, gar keine nachzuweiſenden An-
ſprüche hat, ſo gefällt es ihr, den letzten Träger des carolingiſchen
Weltreichs an einen ſtillen Ort zu entrücken und ihm eine Gerech-
tigkeit angedeihen zu laſſen, die ihm die Mitlebenden verſagten.
Eines Gerüchtes, daß der alte Kaiſer nicht geſtorben, ſondern von
ſeinen Feinden ſtrangulirt worden ſei, erwähnt der Mönch von Vaast
in ſeinen Jahrbüchern bei Pertz Mon. II. 203. Das Volk aber, das von
ihm ein ganz ander Bild im Herzen trug, als der Haß der Parteien,
die ihn mit entſtellten Zügen der Nachwelt geſchildert, und das in
dem hereingebrochenen Jammer der nächſten Jahrzehnte keinen Grund
fand, ſeine Abſetzung als den Anbruch beſſerer Zeiten zu begrüßen,
hielt in Alemannien an dem Glauben feſt, daß er gar nicht geſtorben
ſei und noch, wie früher und ſpäter manch ein anderer Held, in irgend
einer Höhle verborgen ſitze, um zu rechter Stunde wieder herauszu-
treten und die Zügel ſeines Reiches zu Handen zu nehmen. Mehrere
Aufſtände in Alemannien gegen den durch Karl des Dicken Sturz
empor gekommenen Kaiſer gaben Zeugniß von dem Antheil, den man
für ſeinen abgeſetzten Vorfahr hegte.
Auch die neuere Geſchichtſchreibung beginnt, die wahren Gründe
der Abſetzung und das ſeither dem dicken Kaiſer zugefügte Unrecht
einzuſehen, und es wird zugegeben, daß die Machinationen des hohen
Clerus, der damals mit der Einführung des pſeudo-iſidoriſchen Kirchen-
rechts in Deutſchland beſchäftigt war und einen ſeinen herrſchſüchtigen
Beſtrebungen willfährigen Kaiſer bedurfte, „guten Theils“ an jener
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0463" n="441"/>
        <note xml:id="edt151" prev="#ed151" place="end" n="151)"><hi rendition="#aq">.. &#x201E;vel, ut perturbatores reipublicae dignum est pati,<lb/>
u&#x017F;que ad cinerem concremati et in omnem ventum di&#x017F;per&#x017F;i<lb/>
cum nominibu&#x017F; vel potiu&#x017F; ignominia et memoria &#x017F;ua condem-<lb/>
nentur in secula!&#x201C; Erchanberti breviarium ad ann. 880.</hi> bei<lb/><hi rendition="#aq">Pertz Monum. II. 330.</hi></note><lb/>
        <note xml:id="edt152" prev="#ed152" place="end" n="152)">
          <p>Die Ge&#x017F;talt des Alten in der Heidenhöhle möchte hi&#x017F;tori&#x017F;ch<lb/>
etwas anzuzweifeln &#x017F;ein. Alle Merkmale deuten auf Karl den Dicken,<lb/>
aber der war eigentlich läng&#x017F;t ge&#x017F;torben, bevor die er&#x017F;te Stunde des<lb/>
zehnten Jahrhunderts &#x017F;chlug. Indeß, was die Ge&#x017F;chichte trennt, fügt<lb/>
die Sage wieder zu&#x017F;ammen, und wie &#x017F;ie ein&#x017F;t dem o&#x017F;tgothi&#x017F;chen Dietrich<lb/>
von Bern im Nibelungenlied eine Stellung ver&#x017F;chaffte, auf die er,<lb/>
&#x017F;einen hi&#x017F;tori&#x017F;chen Präcedentien nach, gar keine nachzuwei&#x017F;enden An-<lb/>
&#x017F;prüche hat, &#x017F;o gefällt es ihr, den letzten Träger des carolingi&#x017F;chen<lb/>
Weltreichs an einen &#x017F;tillen Ort zu entrücken und ihm eine Gerech-<lb/>
tigkeit angedeihen zu la&#x017F;&#x017F;en, die ihm die Mitlebenden ver&#x017F;agten.</p><lb/>
          <p>Eines Gerüchtes, daß der alte Kai&#x017F;er nicht ge&#x017F;torben, &#x017F;ondern von<lb/>
&#x017F;einen Feinden &#x017F;trangulirt worden &#x017F;ei, erwähnt der Mönch von Vaast<lb/>
in &#x017F;einen Jahrbüchern bei <hi rendition="#aq">Pertz Mon. II. 203.</hi> Das Volk aber, das von<lb/>
ihm ein ganz ander Bild im Herzen trug, als der Haß der Parteien,<lb/>
die ihn mit ent&#x017F;tellten Zügen der Nachwelt ge&#x017F;childert, und das in<lb/>
dem hereingebrochenen Jammer der näch&#x017F;ten Jahrzehnte keinen Grund<lb/>
fand, &#x017F;eine Ab&#x017F;etzung als den Anbruch be&#x017F;&#x017F;erer Zeiten zu begrüßen,<lb/>
hielt in Alemannien an dem Glauben fe&#x017F;t, daß er gar nicht ge&#x017F;torben<lb/>
&#x017F;ei und noch, wie früher und &#x017F;päter manch ein anderer Held, in irgend<lb/>
einer Höhle verborgen &#x017F;itze, um zu rechter Stunde wieder herauszu-<lb/>
treten und die Zügel &#x017F;eines Reiches zu Handen zu nehmen. Mehrere<lb/>
Auf&#x017F;tände in Alemannien gegen den durch Karl des Dicken Sturz<lb/>
empor gekommenen Kai&#x017F;er gaben Zeugniß von dem Antheil, den man<lb/>
für &#x017F;einen abge&#x017F;etzten Vorfahr hegte.</p><lb/>
          <p>Auch die neuere Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibung beginnt, die wahren Gründe<lb/>
der Ab&#x017F;etzung und das &#x017F;either dem dicken Kai&#x017F;er zugefügte Unrecht<lb/>
einzu&#x017F;ehen, und es wird zugegeben, daß die Machinationen des hohen<lb/>
Clerus, der damals mit der Einführung des p&#x017F;eudo-i&#x017F;idori&#x017F;chen Kirchen-<lb/>
rechts in Deut&#x017F;chland be&#x017F;chäftigt war und einen &#x017F;einen herr&#x017F;ch&#x017F;üchtigen<lb/>
Be&#x017F;trebungen willfährigen Kai&#x017F;er bedurfte, &#x201E;guten Theils&#x201C; an jener<lb/></p>
        </note>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[441/0463] ¹⁵¹⁾ .. „vel, ut perturbatores reipublicae dignum est pati, uſque ad cinerem concremati et in omnem ventum diſperſi cum nominibuſ vel potiuſ ignominia et memoria ſua condem- nentur in secula!“ Erchanberti breviarium ad ann. 880. bei Pertz Monum. II. 330. ¹⁵²⁾ Die Geſtalt des Alten in der Heidenhöhle möchte hiſtoriſch etwas anzuzweifeln ſein. Alle Merkmale deuten auf Karl den Dicken, aber der war eigentlich längſt geſtorben, bevor die erſte Stunde des zehnten Jahrhunderts ſchlug. Indeß, was die Geſchichte trennt, fügt die Sage wieder zuſammen, und wie ſie einſt dem oſtgothiſchen Dietrich von Bern im Nibelungenlied eine Stellung verſchaffte, auf die er, ſeinen hiſtoriſchen Präcedentien nach, gar keine nachzuweiſenden An- ſprüche hat, ſo gefällt es ihr, den letzten Träger des carolingiſchen Weltreichs an einen ſtillen Ort zu entrücken und ihm eine Gerech- tigkeit angedeihen zu laſſen, die ihm die Mitlebenden verſagten. Eines Gerüchtes, daß der alte Kaiſer nicht geſtorben, ſondern von ſeinen Feinden ſtrangulirt worden ſei, erwähnt der Mönch von Vaast in ſeinen Jahrbüchern bei Pertz Mon. II. 203. Das Volk aber, das von ihm ein ganz ander Bild im Herzen trug, als der Haß der Parteien, die ihn mit entſtellten Zügen der Nachwelt geſchildert, und das in dem hereingebrochenen Jammer der nächſten Jahrzehnte keinen Grund fand, ſeine Abſetzung als den Anbruch beſſerer Zeiten zu begrüßen, hielt in Alemannien an dem Glauben feſt, daß er gar nicht geſtorben ſei und noch, wie früher und ſpäter manch ein anderer Held, in irgend einer Höhle verborgen ſitze, um zu rechter Stunde wieder herauszu- treten und die Zügel ſeines Reiches zu Handen zu nehmen. Mehrere Aufſtände in Alemannien gegen den durch Karl des Dicken Sturz empor gekommenen Kaiſer gaben Zeugniß von dem Antheil, den man für ſeinen abgeſetzten Vorfahr hegte. Auch die neuere Geſchichtſchreibung beginnt, die wahren Gründe der Abſetzung und das ſeither dem dicken Kaiſer zugefügte Unrecht einzuſehen, und es wird zugegeben, daß die Machinationen des hohen Clerus, der damals mit der Einführung des pſeudo-iſidoriſchen Kirchen- rechts in Deutſchland beſchäftigt war und einen ſeinen herrſchſüchtigen Beſtrebungen willfährigen Kaiſer bedurfte, „guten Theils“ an jener

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/463
Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/463>, abgerufen am 05.12.2024.