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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791.

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bey dem es freylich blos auf den guten Willen der
Gesellschaft ankam, ob er zu seinem Nachtheil ge-
wendet werden sollte, so unerträglich, daß er
noch mehrere Monate nachher, so oft der Ge-
danke in sein Bewußtseyn trat, demselben, wenn
er im Freyen war, durch das angestrengteste Lau-
fen und Springen zu entfliehen, und wenn er
sich im Zimmer befand, ihn durch überlautes
Schreyen, Klopfen, Lärmen zu übertäuben such-
te. -- Eine Japoneserin, (wenn ich nicht irre,
so habe ich dies Faktum in Weikards philosophi-
schem Arzt gelesen,) ließ in einer Gesellschaft ei-
nen Laut hören, den nur, wie man sagt, die
holländische Etiquette privilegirt. Sie wurde dar-
über so beschämt, daß sie, um sich von dem Ge-
danken daran abzuziehen, ihre Brüste zum Mun-
de herauf (oder, wie ich vielmehr glaube, ihren
Mund zu den Brüsten herunter) arbeitete, sie
zerbiß und starb.

Daß die Ursache der Schaam nicht sowohl in
der Herabwürdigung durch das eigne Bewußtseyn,
als vielmehr in der Herabsetzung in den Augen
Andrer liege, erhellt, auch daraus, daß man vor
dem erröthen kann, was unser eignes Bewußtseyn
nicht nur nicht für unerlaubt, sondern sogar für
sehr edel, natürlich und menschlich erklärt. Wer
wagt es wohl in unsern verkünstelten Gesellschaf-
ten sich gegen die, welche man von Herzen liebt,

so

bey dem es freylich blos auf den guten Willen der
Geſellſchaft ankam, ob er zu ſeinem Nachtheil ge-
wendet werden ſollte, ſo unertraͤglich, daß er
noch mehrere Monate nachher, ſo oft der Ge-
danke in ſein Bewußtſeyn trat, demſelben, wenn
er im Freyen war, durch das angeſtrengteſte Lau-
fen und Springen zu entfliehen, und wenn er
ſich im Zimmer befand, ihn durch uͤberlautes
Schreyen, Klopfen, Laͤrmen zu uͤbertaͤuben ſuch-
te. — Eine Japoneſerin, (wenn ich nicht irre,
ſo habe ich dies Faktum in Weikards philoſophi-
ſchem Arzt geleſen,) ließ in einer Geſellſchaft ei-
nen Laut hoͤren, den nur, wie man ſagt, die
hollaͤndiſche Etiquette privilegirt. Sie wurde dar-
uͤber ſo beſchaͤmt, daß ſie, um ſich von dem Ge-
danken daran abzuziehen, ihre Bruͤſte zum Mun-
de herauf (oder, wie ich vielmehr glaube, ihren
Mund zu den Bruͤſten herunter) arbeitete, ſie
zerbiß und ſtarb.

Daß die Urſache der Schaam nicht ſowohl in
der Herabwuͤrdigung durch das eigne Bewußtſeyn,
als vielmehr in der Herabſetzung in den Augen
Andrer liege, erhellt, auch daraus, daß man vor
dem erroͤthen kann, was unſer eignes Bewußtſeyn
nicht nur nicht fuͤr unerlaubt, ſondern ſogar fuͤr
ſehr edel, natuͤrlich und menſchlich erklaͤrt. Wer
wagt es wohl in unſern verkuͤnſtelten Geſellſchaf-
ten ſich gegen die, welche man von Herzen liebt,

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[622/0338] bey dem es freylich blos auf den guten Willen der Geſellſchaft ankam, ob er zu ſeinem Nachtheil ge- wendet werden ſollte, ſo unertraͤglich, daß er noch mehrere Monate nachher, ſo oft der Ge- danke in ſein Bewußtſeyn trat, demſelben, wenn er im Freyen war, durch das angeſtrengteſte Lau- fen und Springen zu entfliehen, und wenn er ſich im Zimmer befand, ihn durch uͤberlautes Schreyen, Klopfen, Laͤrmen zu uͤbertaͤuben ſuch- te. — Eine Japoneſerin, (wenn ich nicht irre, ſo habe ich dies Faktum in Weikards philoſophi- ſchem Arzt geleſen,) ließ in einer Geſellſchaft ei- nen Laut hoͤren, den nur, wie man ſagt, die hollaͤndiſche Etiquette privilegirt. Sie wurde dar- uͤber ſo beſchaͤmt, daß ſie, um ſich von dem Ge- danken daran abzuziehen, ihre Bruͤſte zum Mun- de herauf (oder, wie ich vielmehr glaube, ihren Mund zu den Bruͤſten herunter) arbeitete, ſie zerbiß und ſtarb. Daß die Urſache der Schaam nicht ſowohl in der Herabwuͤrdigung durch das eigne Bewußtſeyn, als vielmehr in der Herabſetzung in den Augen Andrer liege, erhellt, auch daraus, daß man vor dem erroͤthen kann, was unſer eignes Bewußtſeyn nicht nur nicht fuͤr unerlaubt, ſondern ſogar fuͤr ſehr edel, natuͤrlich und menſchlich erklaͤrt. Wer wagt es wohl in unſern verkuͤnſtelten Geſellſchaf- ten ſich gegen die, welche man von Herzen liebt, ſo

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/338>, abgerufen am 07.05.2024.