suchung der Ursachen der Schaam zu erhellen, daß man zwar sich schämen könne, ohne daß eine Un vollkommenheit von Andern wirklich wahrgenom- men ist, daß aber, wo dieser Affekt hervorgehen soll, doch wenigstens immer der Gedanke mitwir- ken muß, wie würdest du mit dieser Unvollkom- menheit in den Augen Anderer erscheinen! Wo dieser Gedanke nicht zur Wirksamkeit gelangt, da kann zwar Angst und Unruhe über eine an sich entdeckte Unvollkommenheit, aber nicht eigentliche Schaam entstehen.
Da die Ursache der Schaam eine gefürchtete oder wirklich geschehene Entdeckung herabwürdi- gender Unvollkommenheiten ist, so zielen auch die Wirkungen dieses Affekts darauf, entweder, wo dies noch möglich scheint, die Entdeckung Lügen zu strafen, oder, wenn dazu keine Hofnung mehr ist, sich von dem Gedanken an die Beschämung und von dem Entdecker, oder diesen von sich los- zumachen.
Wenn man es noch für möglich hält, dem der uns in einer für uns nachtheiligen Gestalt zu sehen glaubte, seinen Glauben zu benehmen, oder sich wenigstens bemüht, den Entdecker irre zu machen; so sucht man alle Wirkungen, die mit der Schaam nothwendig verbunden sind, zu un- terdrücken, und alle Aeußerungen so zu modifici- ren, daß man den Schein erhält, als habe man
nichts
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ſuchung der Urſachen der Schaam zu erhellen, daß man zwar ſich ſchaͤmen koͤnne, ohne daß eine Un vollkommenheit von Andern wirklich wahrgenom- men iſt, daß aber, wo dieſer Affekt hervorgehen ſoll, doch wenigſtens immer der Gedanke mitwir- ken muß, wie wuͤrdeſt du mit dieſer Unvollkom- menheit in den Augen Anderer erſcheinen! Wo dieſer Gedanke nicht zur Wirkſamkeit gelangt, da kann zwar Angſt und Unruhe uͤber eine an ſich entdeckte Unvollkommenheit, aber nicht eigentliche Schaam entſtehen.
Da die Urſache der Schaam eine gefuͤrchtete oder wirklich geſchehene Entdeckung herabwuͤrdi- gender Unvollkommenheiten iſt, ſo zielen auch die Wirkungen dieſes Affekts darauf, entweder, wo dies noch moͤglich ſcheint, die Entdeckung Luͤgen zu ſtrafen, oder, wenn dazu keine Hofnung mehr iſt, ſich von dem Gedanken an die Beſchaͤmung und von dem Entdecker, oder dieſen von ſich los- zumachen.
Wenn man es noch fuͤr moͤglich haͤlt, dem der uns in einer fuͤr uns nachtheiligen Geſtalt zu ſehen glaubte, ſeinen Glauben zu benehmen, oder ſich wenigſtens bemuͤht, den Entdecker irre zu machen; ſo ſucht man alle Wirkungen, die mit der Schaam nothwendig verbunden ſind, zu un- terdruͤcken, und alle Aeußerungen ſo zu modifici- ren, daß man den Schein erhaͤlt, als habe man
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ſuchung der Urſachen der Schaam zu erhellen, daß
man zwar ſich ſchaͤmen koͤnne, ohne daß eine Un
vollkommenheit von Andern wirklich wahrgenom-
men iſt, daß aber, wo dieſer Affekt hervorgehen
ſoll, doch wenigſtens immer der Gedanke mitwir-
ken muß, wie wuͤrdeſt du mit dieſer Unvollkom-
menheit in den Augen Anderer erſcheinen! Wo
dieſer Gedanke nicht zur Wirkſamkeit gelangt, da
kann zwar Angſt und Unruhe uͤber eine an ſich
entdeckte Unvollkommenheit, aber nicht eigentliche
Schaam entſtehen.
Da die Urſache der Schaam eine gefuͤrchtete
oder wirklich geſchehene Entdeckung herabwuͤrdi-
gender Unvollkommenheiten iſt, ſo zielen auch die
Wirkungen dieſes Affekts darauf, entweder, wo
dies noch moͤglich ſcheint, die Entdeckung Luͤgen
zu ſtrafen, oder, wenn dazu keine Hofnung mehr
iſt, ſich von dem Gedanken an die Beſchaͤmung
und von dem Entdecker, oder dieſen von ſich los-
zumachen.
Wenn man es noch fuͤr moͤglich haͤlt, dem
der uns in einer fuͤr uns nachtheiligen Geſtalt zu
ſehen glaubte, ſeinen Glauben zu benehmen, oder
ſich wenigſtens bemuͤht, den Entdecker irre zu
machen; ſo ſucht man alle Wirkungen, die mit
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/333>, abgerufen am 22.11.2024.
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