Unwürdigen, da er sich mit einem bloßen Dolch in Freyheit setzen könnte! Wer würde Bürden tragen und unter der Last eines mühseligen Lebens schwitzen und ächzen, wenn nicht die Furcht vor etwas nach dem Tode, vor dem unbekannten Lande, aus dessen Bezirk kein Reisender zu- rückkehrt, unsern Entschluß wankend machte, und uns riethe, lieber die Uebel zu dulden, die wir kennen, als zu andern hinzufliehn, die uns noch unbekannt sind?"*) --
Aber wir finden doch Beyspiele, wo die Liebe zum Leben verläugnet wird. Wie manches Men- schen erwähnt die Geschichte, der sich selbst dessel- ben beraubte, oder es mit Freuden, wenigstens mit Gleichgültigkeit, hingab!
Dies wird geschehen können, wenn jene Ur- sachen zu wirken aufhören. Die Neigungen des Menschen werden von dem Wunsche regiert, sich im Wohlbefinden zu erhalten, und sich mithin von Leiden zu entfernen. Stellt er sich also das Leben als eine Reihe von lauter unglücklichen Zu- ständen vor, oder glaubt er nach demselben höhere Freuden zu empfangen; so kann er die Neigung zu demselben verlieren, oder wohl gar eine Abnei- gung gegen dasselbe bekommen.
Wenn das Herz von Leiden gepreßt wird, welche es in seinen empfindlichsten Theilen angrei-
fen
*) Shakespears Hamlet, 3ter Aufz. 1ster Auftritt.
Unwuͤrdigen, da er ſich mit einem bloßen Dolch in Freyheit ſetzen koͤnnte! Wer wuͤrde Buͤrden tragen und unter der Laſt eines muͤhſeligen Lebens ſchwitzen und aͤchzen, wenn nicht die Furcht vor etwas nach dem Tode, vor dem unbekannten Lande, aus deſſen Bezirk kein Reiſender zu- ruͤckkehrt, unſern Entſchluß wankend machte, und uns riethe, lieber die Uebel zu dulden, die wir kennen, als zu andern hinzufliehn, die uns noch unbekannt ſind?„*) —
Aber wir finden doch Beyſpiele, wo die Liebe zum Leben verlaͤugnet wird. Wie manches Men- ſchen erwaͤhnt die Geſchichte, der ſich ſelbſt deſſel- ben beraubte, oder es mit Freuden, wenigſtens mit Gleichguͤltigkeit, hingab!
Dies wird geſchehen koͤnnen, wenn jene Ur- ſachen zu wirken aufhoͤren. Die Neigungen des Menſchen werden von dem Wunſche regiert, ſich im Wohlbefinden zu erhalten, und ſich mithin von Leiden zu entfernen. Stellt er ſich alſo das Leben als eine Reihe von lauter ungluͤcklichen Zu- ſtaͤnden vor, oder glaubt er nach demſelben hoͤhere Freuden zu empfangen; ſo kann er die Neigung zu demſelben verlieren, oder wohl gar eine Abnei- gung gegen daſſelbe bekommen.
Wenn das Herz von Leiden gepreßt wird, welche es in ſeinen empfindlichſten Theilen angrei-
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*) Shakeſpears Hamlet, 3ter Aufz. 1ſter Auftritt.
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Unwuͤrdigen, da er ſich mit einem bloßen Dolch
in Freyheit ſetzen koͤnnte! Wer wuͤrde Buͤrden
tragen und unter der Laſt eines muͤhſeligen Lebens
ſchwitzen und aͤchzen, wenn nicht die Furcht vor
etwas nach dem Tode, vor dem unbekannten
Lande, aus deſſen Bezirk kein Reiſender zu-
ruͤckkehrt, unſern Entſchluß wankend machte,
und uns riethe, lieber die Uebel zu dulden, die
wir kennen, als zu andern hinzufliehn, die uns
noch unbekannt ſind?„ *) —
Aber wir finden doch Beyſpiele, wo die Liebe
zum Leben verlaͤugnet wird. Wie manches Men-
ſchen erwaͤhnt die Geſchichte, der ſich ſelbſt deſſel-
ben beraubte, oder es mit Freuden, wenigſtens
mit Gleichguͤltigkeit, hingab!
Dies wird geſchehen koͤnnen, wenn jene Ur-
ſachen zu wirken aufhoͤren. Die Neigungen des
Menſchen werden von dem Wunſche regiert, ſich
im Wohlbefinden zu erhalten, und ſich mithin
von Leiden zu entfernen. Stellt er ſich alſo das
Leben als eine Reihe von lauter ungluͤcklichen Zu-
ſtaͤnden vor, oder glaubt er nach demſelben hoͤhere
Freuden zu empfangen; ſo kann er die Neigung
zu demſelben verlieren, oder wohl gar eine Abnei-
gung gegen daſſelbe bekommen.
Wenn das Herz von Leiden gepreßt wird,
welche es in ſeinen empfindlichſten Theilen angrei-
fen
*) Shakeſpears Hamlet, 3ter Aufz. 1ſter Auftritt.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/28>, abgerufen am 22.11.2024.
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