sclavischen Ehebündniß mit Pyrrhus weit vor- zog, sprach hier aus ihrer Empfindung.
Die zärtliche Mutter empfindet bey dem Krankenbette ihres Kindes gewiß weit mehr, als dieses. Weil sie so sehnlich wünscht, daß es demselben immer wohl sey, mahlt sich das gering- ste Leiden ihrer Phantasie sehr groß ab; sie sieht in dem kranken Kinde nur das kranke, hülflose, leidende Kind, und das unangenehme Gefühl, demselben nicht helfen zu können, vergrößert den Schmerz des mütterlichen Mitleidens
Am allerklarsten wird es, daß das Mitge- fühl von der Vorstellung dessen, was man selbst in einer ähnlichen Situation empfinden würde, regiert wird, dadurch, daß man auch mit den Todten sympathisirt, die doch alles Gefühls be- raubt sind. Es ist doch traurig, sagt man, daß der arme Mann nun nicht mehr der Freuden des Lebens genießen kann, daß er in das dunkle Grab verscharrt und eine Speise der Würmer wird -- und will eigentlich sagen: Es wäre doch traurig, wenn ich itzt der Freuden des Lebens entbehren müßte, und die Gruft mich einschlösse, und mein Körper ein Raub der Verwesung würde.
Der
Jussa mori, quae sortitus non pertulit ullos Nec victoris heri tetigit captiua cubile. Aeneid. lib. 3. v. 321 sq.
Kk 4
ſclaviſchen Ehebuͤndniß mit Pyrrhus weit vor- zog, ſprach hier aus ihrer Empfindung.
Die zaͤrtliche Mutter empfindet bey dem Krankenbette ihres Kindes gewiß weit mehr, als dieſes. Weil ſie ſo ſehnlich wuͤnſcht, daß es demſelben immer wohl ſey, mahlt ſich das gering- ſte Leiden ihrer Phantaſie ſehr groß ab; ſie ſieht in dem kranken Kinde nur das kranke, huͤlfloſe, leidende Kind, und das unangenehme Gefuͤhl, demſelben nicht helfen zu koͤnnen, vergroͤßert den Schmerz des muͤtterlichen Mitleidens
Am allerklarſten wird es, daß das Mitge- fuͤhl von der Vorſtellung deſſen, was man ſelbſt in einer aͤhnlichen Situation empfinden wuͤrde, regiert wird, dadurch, daß man auch mit den Todten ſympathiſirt, die doch alles Gefuͤhls be- raubt ſind. Es iſt doch traurig, ſagt man, daß der arme Mann nun nicht mehr der Freuden des Lebens genießen kann, daß er in das dunkle Grab verſcharrt und eine Speiſe der Wuͤrmer wird — und will eigentlich ſagen: Es waͤre doch traurig, wenn ich itzt der Freuden des Lebens entbehren muͤßte, und die Gruft mich einſchloͤſſe, und mein Koͤrper ein Raub der Verweſung wuͤrde.
Der
Juſſa mori, quae ſortitus non pertulit ullos Nec victoris heri tetigit captiua cubile. Aeneid. lib. 3. v. 321 ſq.
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ſclaviſchen Ehebuͤndniß mit Pyrrhus weit vor-
zog, ſprach hier aus ihrer Empfindung.
Die zaͤrtliche Mutter empfindet bey dem
Krankenbette ihres Kindes gewiß weit mehr, als
dieſes. Weil ſie ſo ſehnlich wuͤnſcht, daß es
demſelben immer wohl ſey, mahlt ſich das gering-
ſte Leiden ihrer Phantaſie ſehr groß ab; ſie ſieht
in dem kranken Kinde nur das kranke, huͤlfloſe,
leidende Kind, und das unangenehme Gefuͤhl,
demſelben nicht helfen zu koͤnnen, vergroͤßert den
Schmerz des muͤtterlichen Mitleidens
Am allerklarſten wird es, daß das Mitge-
fuͤhl von der Vorſtellung deſſen, was man ſelbſt
in einer aͤhnlichen Situation empfinden wuͤrde,
regiert wird, dadurch, daß man auch mit den
Todten ſympathiſirt, die doch alles Gefuͤhls be-
raubt ſind. Es iſt doch traurig, ſagt man, daß
der arme Mann nun nicht mehr der Freuden des
Lebens genießen kann, daß er in das dunkle Grab
verſcharrt und eine Speiſe der Wuͤrmer wird —
und will eigentlich ſagen: Es waͤre doch traurig,
wenn ich itzt der Freuden des Lebens entbehren
muͤßte, und die Gruft mich einſchloͤſſe, und mein
Koͤrper ein Raub der Verweſung wuͤrde.
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*) Juſſa mori, quae ſortitus non pertulit ullos
Nec victoris heri tetigit captiua cubile.
Aeneid. lib. 3. v. 321 ſq.
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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 2. Halle, 1791, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche02_1791/235>, abgerufen am 28.07.2024.
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