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Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791.

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meinem Heiland, als meinem obersten Lehrmeister
und Professor, der nicht irren kann, herzlich
danke" u. s. w.*)

Wie leicht ganz entgegengesetzte Extreme
in einander fließen, kann man auch bey dieser Art
der Schwärmerey sehen. Der religiöse Schwär-
mer will ganz übersinnlich, ganz geistig werden:
und seine Uebungen, um zu diesem Zweck zu ge-
langen, führen ihn zur gröbsten Sinnlichkeit: und
es zeigt sich am Ende sehr oft, daß die gepriesne
geistliche Liebe aus denselben Quellen entspringt,
aus welchen die körperliche Liebe zu entspringen
pflegt. Es ist dies auch sehr leicht zu begreifen.
Das beständige Bestreben, sich die Gottheit zu ver-
sinnlichen, reizt die Phantasie, und spannt die
Kräfte außerordentlich an. Der Schwärmer
will zum Anschauen eines Wesens gelangen, das
nicht angeschauet werden kann, wobey es also
der Jmagination frey steht, hervorzubringen,
was sie will. Sie nimmt zu dem Bilde des an-
gebeteten Gegenstandes die reizendsten Farben,
und zeichnet es nach den geheimsten und geliebte-
sten Neigungen ab. Aber, weil es nichts als ein
Bild ohne Gegenstand ist, muß das Auge der
Einbildungskraft immer auf dasselbe hinblicken,
weil es nur so lange, als dies geschieht, existirt.

Aus
*) Helvet. Scenen der n. Schwärmer und Jnt.
S. 112.

meinem Heiland, als meinem oberſten Lehrmeiſter
und Profeſſor, der nicht irren kann, herzlich
danke„ u. ſ. w.*)

Wie leicht ganz entgegengeſetzte Extreme
in einander fließen, kann man auch bey dieſer Art
der Schwaͤrmerey ſehen. Der religioͤſe Schwaͤr-
mer will ganz uͤberſinnlich, ganz geiſtig werden:
und ſeine Uebungen, um zu dieſem Zweck zu ge-
langen, fuͤhren ihn zur groͤbſten Sinnlichkeit: und
es zeigt ſich am Ende ſehr oft, daß die geprieſne
geiſtliche Liebe aus denſelben Quellen entſpringt,
aus welchen die koͤrperliche Liebe zu entſpringen
pflegt. Es iſt dies auch ſehr leicht zu begreifen.
Das beſtaͤndige Beſtreben, ſich die Gottheit zu ver-
ſinnlichen, reizt die Phantaſie, und ſpannt die
Kraͤfte außerordentlich an. Der Schwaͤrmer
will zum Anſchauen eines Weſens gelangen, das
nicht angeſchauet werden kann, wobey es alſo
der Jmagination frey ſteht, hervorzubringen,
was ſie will. Sie nimmt zu dem Bilde des an-
gebeteten Gegenſtandes die reizendſten Farben,
und zeichnet es nach den geheimſten und geliebte-
ſten Neigungen ab. Aber, weil es nichts als ein
Bild ohne Gegenſtand iſt, muß das Auge der
Einbildungskraft immer auf daſſelbe hinblicken,
weil es nur ſo lange, als dies geſchieht, exiſtirt.

Aus
*) Helvet. Scenen der n. Schwaͤrmer und Jnt.
S. 112.
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[258/0282] meinem Heiland, als meinem oberſten Lehrmeiſter und Profeſſor, der nicht irren kann, herzlich danke„ u. ſ. w. *) Wie leicht ganz entgegengeſetzte Extreme in einander fließen, kann man auch bey dieſer Art der Schwaͤrmerey ſehen. Der religioͤſe Schwaͤr- mer will ganz uͤberſinnlich, ganz geiſtig werden: und ſeine Uebungen, um zu dieſem Zweck zu ge- langen, fuͤhren ihn zur groͤbſten Sinnlichkeit: und es zeigt ſich am Ende ſehr oft, daß die geprieſne geiſtliche Liebe aus denſelben Quellen entſpringt, aus welchen die koͤrperliche Liebe zu entſpringen pflegt. Es iſt dies auch ſehr leicht zu begreifen. Das beſtaͤndige Beſtreben, ſich die Gottheit zu ver- ſinnlichen, reizt die Phantaſie, und ſpannt die Kraͤfte außerordentlich an. Der Schwaͤrmer will zum Anſchauen eines Weſens gelangen, das nicht angeſchauet werden kann, wobey es alſo der Jmagination frey ſteht, hervorzubringen, was ſie will. Sie nimmt zu dem Bilde des an- gebeteten Gegenſtandes die reizendſten Farben, und zeichnet es nach den geheimſten und geliebte- ſten Neigungen ab. Aber, weil es nichts als ein Bild ohne Gegenſtand iſt, muß das Auge der Einbildungskraft immer auf daſſelbe hinblicken, weil es nur ſo lange, als dies geſchieht, exiſtirt. Aus *) Helvet. Scenen der n. Schwaͤrmer und Jnt. S. 112.

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Zitationshilfe: Schaumann, Johann Christian Gottlieb: Psyche oder Unterhaltungen über die Seele. Bd. 1. Halle, 1791, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schaumann_psyche01_1791/282>, abgerufen am 01.05.2024.