Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Buch II. Rechtsverhältnisse. Kap. III. Entstehung und Untergang.
schäfte erleichtert werden sollten. Wollte man aber dabey
strenge stehen bleiben, so läge darin ein großes Unrecht
gegen den Verletzten, der gegen das Delict des Unmündi-
gen gar keine Hülfe gehabt hätte. Deshalb gilt hier fol-
gende Regel. So lange der Unmündige das in seiner
Handlung liegende Unrecht noch nicht begreift, entsteht
für ihn überhaupt keine Verpflichtung; ist er fähig es zu
begreifen, so wird er durch seine einseitige Handlung ver-
pflichtet, so daß also diese Art der Obligationen auf der
einen Seite schwerer, auf der andern aber leichter ent-
steht, als die Obligationen aus Verträgen. Daß er fähig
ist das Unrecht zu begreifen, wird bey ihm vermuthet so-
bald er proximus pubertati ist; hier also ist der einzige
Fall, worin dieser Begriff noch praktischen Einfluß hat (e).
Allein die individuelle Beurtheilung sollte durch diese Ver-
muthung nicht ausgeschlossen seyn. Diese gründet sich
nicht blos auf die größere oder geringere Entwicklung des
Unmündigen, sondern auch auf die mehr oder weniger ein-
fache Natur der verbotenen Handlung; so z. B. wird ein
zwölfjähriger Knabe leicht wissen was er thut, wenn er
Geld stiehlt; aber er wird es vielleicht nicht begreifen,
wenn ihn ein Anderer zu einem künstlich angelegten Be-

(e) In manchen Stellen wird
als Bedingung der Zurechnung
das proximus pubertati ausge-
drückt, in anderen das doli (oder
culpae) capax; mit so willkühr-
licher Abwechslung, daß Beides
nothwendig als gleichbedeutend ge-
dacht seyn muß. Am unverkenn-
barsten ist es in den Stellen,
worin beide Bedingungen, als in
einem Causalzusammenhang ste-
hend, mit einander verbunden
werden, vgl. § 107. n.

Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang.
ſchäfte erleichtert werden ſollten. Wollte man aber dabey
ſtrenge ſtehen bleiben, ſo läge darin ein großes Unrecht
gegen den Verletzten, der gegen das Delict des Unmündi-
gen gar keine Hülfe gehabt hätte. Deshalb gilt hier fol-
gende Regel. So lange der Unmündige das in ſeiner
Handlung liegende Unrecht noch nicht begreift, entſteht
für ihn überhaupt keine Verpflichtung; iſt er fähig es zu
begreifen, ſo wird er durch ſeine einſeitige Handlung ver-
pflichtet, ſo daß alſo dieſe Art der Obligationen auf der
einen Seite ſchwerer, auf der andern aber leichter ent-
ſteht, als die Obligationen aus Verträgen. Daß er fähig
iſt das Unrecht zu begreifen, wird bey ihm vermuthet ſo-
bald er proximus pubertati iſt; hier alſo iſt der einzige
Fall, worin dieſer Begriff noch praktiſchen Einfluß hat (e).
Allein die individuelle Beurtheilung ſollte durch dieſe Ver-
muthung nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Dieſe gründet ſich
nicht blos auf die größere oder geringere Entwicklung des
Unmündigen, ſondern auch auf die mehr oder weniger ein-
fache Natur der verbotenen Handlung; ſo z. B. wird ein
zwölfjähriger Knabe leicht wiſſen was er thut, wenn er
Geld ſtiehlt; aber er wird es vielleicht nicht begreifen,
wenn ihn ein Anderer zu einem künſtlich angelegten Be-

(e) In manchen Stellen wird
als Bedingung der Zurechnung
das proximus pubertati ausge-
drückt, in anderen das doli (oder
culpae) capax; mit ſo willkühr-
licher Abwechslung, daß Beides
nothwendig als gleichbedeutend ge-
dacht ſeyn muß. Am unverkenn-
barſten iſt es in den Stellen,
worin beide Bedingungen, als in
einem Cauſalzuſammenhang ſte-
hend, mit einander verbunden
werden, vgl. § 107. n.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0054" n="42"/><fw place="top" type="header">Buch <hi rendition="#aq">II.</hi> Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;e. Kap. <hi rendition="#aq">III.</hi> Ent&#x017F;tehung und Untergang.</fw><lb/>
&#x017F;chäfte erleichtert werden &#x017F;ollten. Wollte man aber dabey<lb/>
&#x017F;trenge &#x017F;tehen bleiben, &#x017F;o läge darin ein großes Unrecht<lb/>
gegen den Verletzten, der gegen das Delict des Unmündi-<lb/>
gen gar keine Hülfe gehabt hätte. Deshalb gilt hier fol-<lb/>
gende Regel. So lange der Unmündige das in &#x017F;einer<lb/>
Handlung liegende Unrecht noch nicht begreift, ent&#x017F;teht<lb/>
für ihn überhaupt keine Verpflichtung; i&#x017F;t er fähig es zu<lb/>
begreifen, &#x017F;o wird er durch &#x017F;eine ein&#x017F;eitige Handlung ver-<lb/>
pflichtet, &#x017F;o daß al&#x017F;o die&#x017F;e Art der Obligationen auf der<lb/>
einen Seite &#x017F;chwerer, auf der andern aber leichter ent-<lb/>
&#x017F;teht, als die Obligationen aus Verträgen. Daß er fähig<lb/>
i&#x017F;t das Unrecht zu begreifen, wird bey ihm vermuthet &#x017F;o-<lb/>
bald er <hi rendition="#aq">proximus pubertati</hi> i&#x017F;t; hier al&#x017F;o i&#x017F;t der einzige<lb/>
Fall, worin die&#x017F;er Begriff noch prakti&#x017F;chen Einfluß hat <note place="foot" n="(e)">In manchen Stellen wird<lb/>
als Bedingung der Zurechnung<lb/>
das <hi rendition="#aq">proximus pubertati</hi> ausge-<lb/>
drückt, in anderen das <hi rendition="#aq">doli</hi> (oder<lb/><hi rendition="#aq">culpae) capax;</hi> mit &#x017F;o willkühr-<lb/>
licher Abwechslung, daß Beides<lb/>
nothwendig als gleichbedeutend ge-<lb/>
dacht &#x017F;eyn muß. Am unverkenn-<lb/>
bar&#x017F;ten i&#x017F;t es in den Stellen,<lb/>
worin beide Bedingungen, als in<lb/>
einem Cau&#x017F;alzu&#x017F;ammenhang &#x017F;te-<lb/>
hend, mit einander verbunden<lb/>
werden, vgl. § 107. <hi rendition="#aq">n.</hi></note>.<lb/>
Allein die individuelle Beurtheilung &#x017F;ollte durch die&#x017F;e Ver-<lb/>
muthung nicht ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn. Die&#x017F;e gründet &#x017F;ich<lb/>
nicht blos auf die größere oder geringere Entwicklung des<lb/>
Unmündigen, &#x017F;ondern auch auf die mehr oder weniger ein-<lb/>
fache Natur der verbotenen Handlung; &#x017F;o z. B. wird ein<lb/>
zwölfjähriger Knabe leicht wi&#x017F;&#x017F;en was er thut, wenn er<lb/>
Geld &#x017F;tiehlt; aber er wird es vielleicht nicht begreifen,<lb/>
wenn ihn ein Anderer zu einem kün&#x017F;tlich angelegten Be-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0054] Buch II. Rechtsverhältniſſe. Kap. III. Entſtehung und Untergang. ſchäfte erleichtert werden ſollten. Wollte man aber dabey ſtrenge ſtehen bleiben, ſo läge darin ein großes Unrecht gegen den Verletzten, der gegen das Delict des Unmündi- gen gar keine Hülfe gehabt hätte. Deshalb gilt hier fol- gende Regel. So lange der Unmündige das in ſeiner Handlung liegende Unrecht noch nicht begreift, entſteht für ihn überhaupt keine Verpflichtung; iſt er fähig es zu begreifen, ſo wird er durch ſeine einſeitige Handlung ver- pflichtet, ſo daß alſo dieſe Art der Obligationen auf der einen Seite ſchwerer, auf der andern aber leichter ent- ſteht, als die Obligationen aus Verträgen. Daß er fähig iſt das Unrecht zu begreifen, wird bey ihm vermuthet ſo- bald er proximus pubertati iſt; hier alſo iſt der einzige Fall, worin dieſer Begriff noch praktiſchen Einfluß hat (e). Allein die individuelle Beurtheilung ſollte durch dieſe Ver- muthung nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Dieſe gründet ſich nicht blos auf die größere oder geringere Entwicklung des Unmündigen, ſondern auch auf die mehr oder weniger ein- fache Natur der verbotenen Handlung; ſo z. B. wird ein zwölfjähriger Knabe leicht wiſſen was er thut, wenn er Geld ſtiehlt; aber er wird es vielleicht nicht begreifen, wenn ihn ein Anderer zu einem künſtlich angelegten Be- (e) In manchen Stellen wird als Bedingung der Zurechnung das proximus pubertati ausge- drückt, in anderen das doli (oder culpae) capax; mit ſo willkühr- licher Abwechslung, daß Beides nothwendig als gleichbedeutend ge- dacht ſeyn muß. Am unverkenn- barſten iſt es in den Stellen, worin beide Bedingungen, als in einem Cauſalzuſammenhang ſte- hend, mit einander verbunden werden, vgl. § 107. n.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/54
Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system03_1840/54>, abgerufen am 23.11.2024.