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Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840.

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§. 56. Vermögensrecht.
lienverhältniß von Rechtsgesetzen nur unvollständig be-
herrscht wird, so daß ein großer Theil desselben den sitt-
lichen Einflüssen ausschließend überlassen bleibt. Dagegen
wird in den Vermögensverhältnissen die Herrschaft des
Rechtsgesetzes vollständig durchgeführt, und zwar ohne Rück-
sicht auf die sittliche oder unsittliche Ausübung eines Rechts.
Daher kann der Reiche den Armen untergehen lassen durch
versagte Unterstützung oder harte Ausübung des Schuld-
rechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entspringt
nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf dem
des öffentlichen Rechts; sie liegt in den Armenanstalten,
wozu allerdings der Reiche beyzutragen gezwungen wer-
den kann, wenngleich sein Beytrag vielleicht nicht unmit-
telbar merklich ist. Es bleibt also dennoch wahr, daß dem
Vermögensrecht als einem privatrechtlichen Institut kein
sittlicher Bestandtheil zuzuschreiben ist, und es wird durch
diese Behauptung weder die unbedingte Herrschaft sittli-
cher Gesetze verkannt, noch die Natur des Privatrechts in
ein zweydeutiges Licht gesetzt (vgl. § 52).

Auf den ersten Blick scheint das Verhältniß der ange-
gebenen beiden Theile des Vermögensrechts zu einander
schon durch ihren bloßen Gegenstand so unabänderlich be-
stimmt, daß es überall in derselben Weise gefunden wer-
den müßte. Bey genauerer Betrachtung aber zeigt sich
hierin vielmehr ein sehr freyer Spielraum für mannichfal-
tige Bestimmungen des positiven Rechts verschiedener Völ-
ker. Und zwar finden wir diese Verschiedenheit theils in

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§. 56. Vermögensrecht.
lienverhältniß von Rechtsgeſetzen nur unvollſtändig be-
herrſcht wird, ſo daß ein großer Theil deſſelben den ſitt-
lichen Einflüſſen ausſchließend überlaſſen bleibt. Dagegen
wird in den Vermögensverhältniſſen die Herrſchaft des
Rechtsgeſetzes vollſtändig durchgeführt, und zwar ohne Rück-
ſicht auf die ſittliche oder unſittliche Ausübung eines Rechts.
Daher kann der Reiche den Armen untergehen laſſen durch
verſagte Unterſtützung oder harte Ausübung des Schuld-
rechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entſpringt
nicht auf dem Boden des Privatrechts, ſondern auf dem
des öffentlichen Rechts; ſie liegt in den Armenanſtalten,
wozu allerdings der Reiche beyzutragen gezwungen wer-
den kann, wenngleich ſein Beytrag vielleicht nicht unmit-
telbar merklich iſt. Es bleibt alſo dennoch wahr, daß dem
Vermögensrecht als einem privatrechtlichen Inſtitut kein
ſittlicher Beſtandtheil zuzuſchreiben iſt, und es wird durch
dieſe Behauptung weder die unbedingte Herrſchaft ſittli-
cher Geſetze verkannt, noch die Natur des Privatrechts in
ein zweydeutiges Licht geſetzt (vgl. § 52).

Auf den erſten Blick ſcheint das Verhältniß der ange-
gebenen beiden Theile des Vermögensrechts zu einander
ſchon durch ihren bloßen Gegenſtand ſo unabänderlich be-
ſtimmt, daß es überall in derſelben Weiſe gefunden wer-
den müßte. Bey genauerer Betrachtung aber zeigt ſich
hierin vielmehr ein ſehr freyer Spielraum für mannichfal-
tige Beſtimmungen des poſitiven Rechts verſchiedener Völ-
ker. Und zwar finden wir dieſe Verſchiedenheit theils in

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[371/0427] §. 56. Vermögensrecht. lienverhältniß von Rechtsgeſetzen nur unvollſtändig be- herrſcht wird, ſo daß ein großer Theil deſſelben den ſitt- lichen Einflüſſen ausſchließend überlaſſen bleibt. Dagegen wird in den Vermögensverhältniſſen die Herrſchaft des Rechtsgeſetzes vollſtändig durchgeführt, und zwar ohne Rück- ſicht auf die ſittliche oder unſittliche Ausübung eines Rechts. Daher kann der Reiche den Armen untergehen laſſen durch verſagte Unterſtützung oder harte Ausübung des Schuld- rechts, und die Hülfe, die dagegen Statt findet, entſpringt nicht auf dem Boden des Privatrechts, ſondern auf dem des öffentlichen Rechts; ſie liegt in den Armenanſtalten, wozu allerdings der Reiche beyzutragen gezwungen wer- den kann, wenngleich ſein Beytrag vielleicht nicht unmit- telbar merklich iſt. Es bleibt alſo dennoch wahr, daß dem Vermögensrecht als einem privatrechtlichen Inſtitut kein ſittlicher Beſtandtheil zuzuſchreiben iſt, und es wird durch dieſe Behauptung weder die unbedingte Herrſchaft ſittli- cher Geſetze verkannt, noch die Natur des Privatrechts in ein zweydeutiges Licht geſetzt (vgl. § 52). Auf den erſten Blick ſcheint das Verhältniß der ange- gebenen beiden Theile des Vermögensrechts zu einander ſchon durch ihren bloßen Gegenſtand ſo unabänderlich be- ſtimmt, daß es überall in derſelben Weiſe gefunden wer- den müßte. Bey genauerer Betrachtung aber zeigt ſich hierin vielmehr ein ſehr freyer Spielraum für mannichfal- tige Beſtimmungen des poſitiven Rechts verſchiedener Völ- ker. Und zwar finden wir dieſe Verſchiedenheit theils in 24*

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin, 1840, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_system01_1840/427>, abgerufen am 17.09.2024.