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Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814.

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Rechtsfall ein Gericht vorzieht, irgend eine beliebige
equite oder loi naturelle anzuwenden aus besonde-
rer Ueberzeugung, oder als Vorwand einer Ungerech-
tigkeit, so kann ihm durchaus kein Vorwurf gemacht
werden, denn das Gesetz läßt dieses alles gelten.
Man sage nicht, das Cassationsgericht werde die
künftige Praxis in Ordnung, ja sogar in Gleichför-
migkeit erhalten: das Cassationsgericht soll ja blos
cassiren, wo gegen ein Gesetz des Code oder ein
neueres Gesetz gesprochen wird: der Spruch für oder
wider loi naturelle, Römisches Recht, coutume
oder jurisprudence liegt also ganz außer der Wirk-
samkeit jenes Gerichtshofes. Endlich ist auch noch
der wichtige Umstand zu bemerken, daß in allen aus
der Revolution hervorgegangenen Stücken des Code
das vorige Recht gar keinen Schutz gegen die blin-
deste Willkühr gewährt. Auch dafür mag wiederum
das oben gewählte Beyspiel von Ungültigkeit der
Ehe zur Erläuterung dienen.

Das zweite, was als Supplement des Code
gelten kann, ist die wissenschaftliche Theorie. Porta-
lis
beschreibt diese einmal sehr prächtig: sie sey wie
das Meer, die Gesetze seyen die Ufer 1). In Frank-
reich hat es nun freylich mit diesem Meere nicht viel
zu bedeuten, denn eine Rechtswissenschaft, die nicht
auf dem Boden gründlich historischer Kenntniß ruht,

1) Moniteur an X. p. 337.

Rechtsfall ein Gericht vorzieht, irgend eine beliebige
équité oder loi naturelle anzuwenden aus beſonde-
rer Ueberzeugung, oder als Vorwand einer Ungerech-
tigkeit, ſo kann ihm durchaus kein Vorwurf gemacht
werden, denn das Geſetz läßt dieſes alles gelten.
Man ſage nicht, das Caſſationsgericht werde die
künftige Praxis in Ordnung, ja ſogar in Gleichför-
migkeit erhalten: das Caſſationsgericht ſoll ja blos
caſſiren, wo gegen ein Geſetz des Code oder ein
neueres Geſetz geſprochen wird: der Spruch für oder
wider loi naturelle, Römiſches Recht, coutume
oder jurisprudence liegt alſo ganz außer der Wirk-
ſamkeit jenes Gerichtshofes. Endlich iſt auch noch
der wichtige Umſtand zu bemerken, daß in allen aus
der Revolution hervorgegangenen Stücken des Code
das vorige Recht gar keinen Schutz gegen die blin-
deſte Willkühr gewährt. Auch dafür mag wiederum
das oben gewählte Beyſpiel von Ungültigkeit der
Ehe zur Erläuterung dienen.

Das zweite, was als Supplement des Code
gelten kann, iſt die wiſſenſchaftliche Theorie. Porta-
lis
beſchreibt dieſe einmal ſehr prächtig: ſie ſey wie
das Meer, die Geſetze ſeyen die Ufer 1). In Frank-
reich hat es nun freylich mit dieſem Meere nicht viel
zu bedeuten, denn eine Rechtswiſſenſchaft, die nicht
auf dem Boden gründlich hiſtoriſcher Kenntniß ruht,

1) Moniteur an X. p. 337.
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[78/0088] Rechtsfall ein Gericht vorzieht, irgend eine beliebige équité oder loi naturelle anzuwenden aus beſonde- rer Ueberzeugung, oder als Vorwand einer Ungerech- tigkeit, ſo kann ihm durchaus kein Vorwurf gemacht werden, denn das Geſetz läßt dieſes alles gelten. Man ſage nicht, das Caſſationsgericht werde die künftige Praxis in Ordnung, ja ſogar in Gleichför- migkeit erhalten: das Caſſationsgericht ſoll ja blos caſſiren, wo gegen ein Geſetz des Code oder ein neueres Geſetz geſprochen wird: der Spruch für oder wider loi naturelle, Römiſches Recht, coutume oder jurisprudence liegt alſo ganz außer der Wirk- ſamkeit jenes Gerichtshofes. Endlich iſt auch noch der wichtige Umſtand zu bemerken, daß in allen aus der Revolution hervorgegangenen Stücken des Code das vorige Recht gar keinen Schutz gegen die blin- deſte Willkühr gewährt. Auch dafür mag wiederum das oben gewählte Beyſpiel von Ungültigkeit der Ehe zur Erläuterung dienen. Das zweite, was als Supplement des Code gelten kann, iſt die wiſſenſchaftliche Theorie. Porta- lis beſchreibt dieſe einmal ſehr prächtig: ſie ſey wie das Meer, die Geſetze ſeyen die Ufer 1). In Frank- reich hat es nun freylich mit dieſem Meere nicht viel zu bedeuten, denn eine Rechtswiſſenſchaft, die nicht auf dem Boden gründlich hiſtoriſcher Kenntniß ruht, 1) Moniteur an X. p. 337.

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Zitationshilfe: Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/88>, abgerufen am 28.04.2024.