Man könnte versucht seyn, die Nothwendigkeit dieser historischen Ergründung des Stoffs, in welchem wir unwillkührlich befangen sind, zwar für unsre Lage zuzugeben, aber zugleich für ein Uebel zu hal- ten, indem dadurch Kräfte in Anspruch genommen werden, die zu nützlicheren Zwecken verwendet wer- den könnten. Diese Ansicht wäre traurig, weil sie das Gefühl eines unvermeidlichen Uebels erregen würde, aber wir können uns damit trösten, daß sie falsch ist. Vielmehr ist diese Nothwendigkeit auch an sich für ein großes Gut zu achten. In der Ge- schichte aller bedeutenden Völker nämlich finden wir einen Uebergang von beschränkter, aber frischer und lebensvoller, Individualität zu unbestimmter Allge- meinheit. Auf diesem Wege geht auch das bürger- liche Recht, und auch in ihm kann zuletzt das Be- wußtseyn der Volkseigenthümlichkeit verloren gehen: so geschieht es, wenn bejahrte Völker darüber nach- denken, wie viele Eigenheiten ihres Rechts sich be- reits abgeschliffen haben, daß sie leicht zu dem so eben dargestellten Irrthum kommen, indem sie ihr ganzes noch übriges Recht für ein jus quod natu- ralis ratio apud omnes homines constituit hal- ten. Daß damit zugleich der eigenthümliche Vorzug verloren geht, welchen das Recht in frühen Zeiten hat (S. 9), ist unverkennbar. Zu diesem vergan- genen Zustande zurück zu kehren, würde ein frucht- loser und thörichter Rath seyn: aber etwas anderes
Man könnte verſucht ſeyn, die Nothwendigkeit dieſer hiſtoriſchen Ergründung des Stoffs, in welchem wir unwillkührlich befangen ſind, zwar für unſre Lage zuzugeben, aber zugleich für ein Uebel zu hal- ten, indem dadurch Kräfte in Anſpruch genommen werden, die zu nützlicheren Zwecken verwendet wer- den könnten. Dieſe Anſicht wäre traurig, weil ſie das Gefühl eines unvermeidlichen Uebels erregen würde, aber wir können uns damit tröſten, daß ſie falſch iſt. Vielmehr iſt dieſe Nothwendigkeit auch an ſich für ein großes Gut zu achten. In der Ge- ſchichte aller bedeutenden Völker nämlich finden wir einen Uebergang von beſchränkter, aber friſcher und lebensvoller, Individualität zu unbeſtimmter Allge- meinheit. Auf dieſem Wege geht auch das bürger- liche Recht, und auch in ihm kann zuletzt das Be- wußtſeyn der Volkseigenthümlichkeit verloren gehen: ſo geſchieht es, wenn bejahrte Völker darüber nach- denken, wie viele Eigenheiten ihres Rechts ſich be- reits abgeſchliffen haben, daß ſie leicht zu dem ſo eben dargeſtellten Irrthum kommen, indem ſie ihr ganzes noch übriges Recht für ein jus quod natu- ralis ratio apud omnes homines constituit hal- ten. Daß damit zugleich der eigenthümliche Vorzug verloren geht, welchen das Recht in frühen Zeiten hat (S. 9), iſt unverkennbar. Zu dieſem vergan- genen Zuſtande zurück zu kehren, würde ein frucht- loſer und thörichter Rath ſeyn: aber etwas anderes
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0126"n="116"/><p>Man könnte verſucht ſeyn, die Nothwendigkeit<lb/>
dieſer hiſtoriſchen Ergründung des Stoffs, in welchem<lb/>
wir unwillkührlich befangen ſind, zwar für unſre<lb/>
Lage zuzugeben, aber zugleich für ein Uebel zu hal-<lb/>
ten, indem dadurch Kräfte in Anſpruch genommen<lb/>
werden, die zu nützlicheren Zwecken verwendet wer-<lb/>
den könnten. Dieſe Anſicht wäre traurig, weil ſie<lb/>
das Gefühl eines unvermeidlichen Uebels erregen<lb/>
würde, aber wir können uns damit tröſten, daß ſie<lb/>
falſch iſt. Vielmehr iſt dieſe Nothwendigkeit auch<lb/>
an ſich für ein großes Gut zu achten. In der Ge-<lb/>ſchichte aller bedeutenden Völker nämlich finden wir<lb/>
einen Uebergang von beſchränkter, aber friſcher und<lb/>
lebensvoller, Individualität zu unbeſtimmter Allge-<lb/>
meinheit. Auf dieſem Wege geht auch das bürger-<lb/>
liche Recht, und auch in ihm kann zuletzt das Be-<lb/>
wußtſeyn der Volkseigenthümlichkeit verloren gehen:<lb/>ſo geſchieht es, wenn bejahrte Völker darüber nach-<lb/>
denken, wie viele Eigenheiten ihres Rechts ſich be-<lb/>
reits abgeſchliffen haben, daß ſie leicht zu dem ſo<lb/>
eben dargeſtellten Irrthum kommen, indem ſie ihr<lb/>
ganzes noch übriges Recht für ein <hirendition="#aq">jus quod natu-<lb/>
ralis ratio apud omnes homines constituit</hi> hal-<lb/>
ten. Daß damit zugleich der eigenthümliche Vorzug<lb/>
verloren geht, welchen das Recht in frühen Zeiten<lb/>
hat (S. 9), iſt unverkennbar. Zu dieſem vergan-<lb/>
genen Zuſtande zurück zu kehren, würde ein frucht-<lb/>
loſer und thörichter Rath ſeyn: aber etwas anderes<lb/></p></div></body></text></TEI>
[116/0126]
Man könnte verſucht ſeyn, die Nothwendigkeit
dieſer hiſtoriſchen Ergründung des Stoffs, in welchem
wir unwillkührlich befangen ſind, zwar für unſre
Lage zuzugeben, aber zugleich für ein Uebel zu hal-
ten, indem dadurch Kräfte in Anſpruch genommen
werden, die zu nützlicheren Zwecken verwendet wer-
den könnten. Dieſe Anſicht wäre traurig, weil ſie
das Gefühl eines unvermeidlichen Uebels erregen
würde, aber wir können uns damit tröſten, daß ſie
falſch iſt. Vielmehr iſt dieſe Nothwendigkeit auch
an ſich für ein großes Gut zu achten. In der Ge-
ſchichte aller bedeutenden Völker nämlich finden wir
einen Uebergang von beſchränkter, aber friſcher und
lebensvoller, Individualität zu unbeſtimmter Allge-
meinheit. Auf dieſem Wege geht auch das bürger-
liche Recht, und auch in ihm kann zuletzt das Be-
wußtſeyn der Volkseigenthümlichkeit verloren gehen:
ſo geſchieht es, wenn bejahrte Völker darüber nach-
denken, wie viele Eigenheiten ihres Rechts ſich be-
reits abgeſchliffen haben, daß ſie leicht zu dem ſo
eben dargeſtellten Irrthum kommen, indem ſie ihr
ganzes noch übriges Recht für ein jus quod natu-
ralis ratio apud omnes homines constituit hal-
ten. Daß damit zugleich der eigenthümliche Vorzug
verloren geht, welchen das Recht in frühen Zeiten
hat (S. 9), iſt unverkennbar. Zu dieſem vergan-
genen Zuſtande zurück zu kehren, würde ein frucht-
loſer und thörichter Rath ſeyn: aber etwas anderes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/126>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.