Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814.Man könnte versucht seyn, die Nothwendigkeit Man könnte verſucht ſeyn, die Nothwendigkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0126" n="116"/> <p>Man könnte verſucht ſeyn, die Nothwendigkeit<lb/> dieſer hiſtoriſchen Ergründung des Stoffs, in welchem<lb/> wir unwillkührlich befangen ſind, zwar für unſre<lb/> Lage zuzugeben, aber zugleich für ein Uebel zu hal-<lb/> ten, indem dadurch Kräfte in Anſpruch genommen<lb/> werden, die zu nützlicheren Zwecken verwendet wer-<lb/> den könnten. Dieſe Anſicht wäre traurig, weil ſie<lb/> das Gefühl eines unvermeidlichen Uebels erregen<lb/> würde, aber wir können uns damit tröſten, daß ſie<lb/> falſch iſt. Vielmehr iſt dieſe Nothwendigkeit auch<lb/> an ſich für ein großes Gut zu achten. In der Ge-<lb/> ſchichte aller bedeutenden Völker nämlich finden wir<lb/> einen Uebergang von beſchränkter, aber friſcher und<lb/> lebensvoller, Individualität zu unbeſtimmter Allge-<lb/> meinheit. Auf dieſem Wege geht auch das bürger-<lb/> liche Recht, und auch in ihm kann zuletzt das Be-<lb/> wußtſeyn der Volkseigenthümlichkeit verloren gehen:<lb/> ſo geſchieht es, wenn bejahrte Völker darüber nach-<lb/> denken, wie viele Eigenheiten ihres Rechts ſich be-<lb/> reits abgeſchliffen haben, daß ſie leicht zu dem ſo<lb/> eben dargeſtellten Irrthum kommen, indem ſie ihr<lb/> ganzes noch übriges Recht für ein <hi rendition="#aq">jus quod natu-<lb/> ralis ratio apud omnes homines constituit</hi> hal-<lb/> ten. Daß damit zugleich der eigenthümliche Vorzug<lb/> verloren geht, welchen das Recht in frühen Zeiten<lb/> hat (S. 9), iſt unverkennbar. Zu dieſem vergan-<lb/> genen Zuſtande zurück zu kehren, würde ein frucht-<lb/> loſer und thörichter Rath ſeyn: aber etwas anderes<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [116/0126]
Man könnte verſucht ſeyn, die Nothwendigkeit
dieſer hiſtoriſchen Ergründung des Stoffs, in welchem
wir unwillkührlich befangen ſind, zwar für unſre
Lage zuzugeben, aber zugleich für ein Uebel zu hal-
ten, indem dadurch Kräfte in Anſpruch genommen
werden, die zu nützlicheren Zwecken verwendet wer-
den könnten. Dieſe Anſicht wäre traurig, weil ſie
das Gefühl eines unvermeidlichen Uebels erregen
würde, aber wir können uns damit tröſten, daß ſie
falſch iſt. Vielmehr iſt dieſe Nothwendigkeit auch
an ſich für ein großes Gut zu achten. In der Ge-
ſchichte aller bedeutenden Völker nämlich finden wir
einen Uebergang von beſchränkter, aber friſcher und
lebensvoller, Individualität zu unbeſtimmter Allge-
meinheit. Auf dieſem Wege geht auch das bürger-
liche Recht, und auch in ihm kann zuletzt das Be-
wußtſeyn der Volkseigenthümlichkeit verloren gehen:
ſo geſchieht es, wenn bejahrte Völker darüber nach-
denken, wie viele Eigenheiten ihres Rechts ſich be-
reits abgeſchliffen haben, daß ſie leicht zu dem ſo
eben dargeſtellten Irrthum kommen, indem ſie ihr
ganzes noch übriges Recht für ein jus quod natu-
ralis ratio apud omnes homines constituit hal-
ten. Daß damit zugleich der eigenthümliche Vorzug
verloren geht, welchen das Recht in frühen Zeiten
hat (S. 9), iſt unverkennbar. Zu dieſem vergan-
genen Zuſtande zurück zu kehren, würde ein frucht-
loſer und thörichter Rath ſeyn: aber etwas anderes
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