Bey den Römern beruht alles darauf, daß der Jurist durch den lebendigen Besitz des Rechts- systems in den Stand gesetzt wird, für jeden gegebe- nen Fall das Recht zu finden. Dazu führt die schar- fe, individuelle Anschauung der einzelnen Rechtsver- hältnisse, so wie die sichere Kenntniß der leitenden Grundsätze, ihres Zusammenhangs und ihrer Unterord- nung, und wo wir bey ihnen Rechtsfälle in der be- dingtesten Anwendung finden, dienen sie doch stets als verkörperter Ausdruck jenes allgemeinen. Diesen Unterschied wird mir jeder zugeben, der das Land- recht unbefangen mit den Pandekten vergleicht, und eine solche Vergleichung ist hier gewiß zulässig, da ja nicht von eigenthümlicher Römischer Verfassung, sondern von allgemeiner Methode die Rede ist. Was insbe- sondere die scharfe, individuelle Auffassung der Be- griffe betrifft, so ist der nicht seltene Mangel dersel- ben im Landrecht weniger auffallend und fühlbar, weil eben die materielle Vollständigkeit des Details ihrer Natur nach dahin strebt, diese Lücke auszufül- len. Was aber die praktischen Regeln selbst, als den eigentlichen Zweck jedes Gesetzbuchs anlangt, so ist die Folge des hier beschriebenen Characters, daß die mei- sten Bestimmungen des Landrechts weder die Höhe allgemeiner, leitender Grundsätze, noch die Anschau- lichkeit des individuellen erreichen, sondern zwischen beiden Endpunkten in der Mitte schweben, während die Römer beide in ihrer naturgemäßen Verknüpfung
Bey den Römern beruht alles darauf, daß der Juriſt durch den lebendigen Beſitz des Rechts- ſyſtems in den Stand geſetzt wird, für jeden gegebe- nen Fall das Recht zu finden. Dazu führt die ſchar- fe, individuelle Anſchauung der einzelnen Rechtsver- hältniſſe, ſo wie die ſichere Kenntniß der leitenden Grundſätze, ihres Zuſammenhangs und ihrer Unterord- nung, und wo wir bey ihnen Rechtsfälle in der be- dingteſten Anwendung finden, dienen ſie doch ſtets als verkörperter Ausdruck jenes allgemeinen. Dieſen Unterſchied wird mir jeder zugeben, der das Land- recht unbefangen mit den Pandekten vergleicht, und eine ſolche Vergleichung iſt hier gewiß zuläſſig, da ja nicht von eigenthümlicher Römiſcher Verfaſſung, ſondern von allgemeiner Methode die Rede iſt. Was insbe- ſondere die ſcharfe, individuelle Auffaſſung der Be- griffe betrifft, ſo iſt der nicht ſeltene Mangel derſel- ben im Landrecht weniger auffallend und fühlbar, weil eben die materielle Vollſtändigkeit des Details ihrer Natur nach dahin ſtrebt, dieſe Lücke auszufül- len. Was aber die praktiſchen Regeln ſelbſt, als den eigentlichen Zweck jedes Geſetzbuchs anlangt, ſo iſt die Folge des hier beſchriebenen Characters, daß die mei- ſten Beſtimmungen des Landrechts weder die Höhe allgemeiner, leitender Grundſätze, noch die Anſchau- lichkeit des individuellen erreichen, ſondern zwiſchen beiden Endpunkten in der Mitte ſchweben, während die Römer beide in ihrer naturgemäßen Verknüpfung
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0100"n="90"/>
Bey den Römern beruht alles darauf, daß der<lb/>
Juriſt durch den lebendigen Beſitz des Rechts-<lb/>ſyſtems in den Stand geſetzt wird, für jeden gegebe-<lb/>
nen Fall das Recht zu finden. Dazu führt die ſchar-<lb/>
fe, individuelle Anſchauung der einzelnen Rechtsver-<lb/>
hältniſſe, ſo wie die ſichere Kenntniß der leitenden<lb/>
Grundſätze, ihres Zuſammenhangs und ihrer Unterord-<lb/>
nung, und wo wir bey ihnen Rechtsfälle in der be-<lb/>
dingteſten Anwendung finden, dienen ſie doch ſtets<lb/>
als verkörperter Ausdruck jenes allgemeinen. Dieſen<lb/>
Unterſchied wird mir jeder zugeben, der das Land-<lb/>
recht unbefangen mit den Pandekten vergleicht, und<lb/>
eine ſolche Vergleichung iſt hier gewiß zuläſſig, da ja<lb/>
nicht von eigenthümlicher Römiſcher Verfaſſung, ſondern<lb/>
von allgemeiner Methode die Rede iſt. Was insbe-<lb/>ſondere die ſcharfe, individuelle Auffaſſung der Be-<lb/>
griffe betrifft, ſo iſt der nicht ſeltene Mangel derſel-<lb/>
ben im Landrecht weniger auffallend und fühlbar,<lb/>
weil eben die materielle Vollſtändigkeit des Details<lb/>
ihrer Natur nach dahin ſtrebt, dieſe Lücke auszufül-<lb/>
len. Was aber die praktiſchen Regeln ſelbſt, als den<lb/>
eigentlichen Zweck jedes Geſetzbuchs anlangt, ſo iſt die<lb/>
Folge des hier beſchriebenen Characters, daß die mei-<lb/>ſten Beſtimmungen des Landrechts weder die Höhe<lb/>
allgemeiner, leitender Grundſätze, noch die Anſchau-<lb/>
lichkeit des individuellen erreichen, ſondern zwiſchen<lb/>
beiden Endpunkten in der Mitte ſchweben, während<lb/>
die Römer beide in ihrer naturgemäßen Verknüpfung<lb/></p></div></body></text></TEI>
[90/0100]
Bey den Römern beruht alles darauf, daß der
Juriſt durch den lebendigen Beſitz des Rechts-
ſyſtems in den Stand geſetzt wird, für jeden gegebe-
nen Fall das Recht zu finden. Dazu führt die ſchar-
fe, individuelle Anſchauung der einzelnen Rechtsver-
hältniſſe, ſo wie die ſichere Kenntniß der leitenden
Grundſätze, ihres Zuſammenhangs und ihrer Unterord-
nung, und wo wir bey ihnen Rechtsfälle in der be-
dingteſten Anwendung finden, dienen ſie doch ſtets
als verkörperter Ausdruck jenes allgemeinen. Dieſen
Unterſchied wird mir jeder zugeben, der das Land-
recht unbefangen mit den Pandekten vergleicht, und
eine ſolche Vergleichung iſt hier gewiß zuläſſig, da ja
nicht von eigenthümlicher Römiſcher Verfaſſung, ſondern
von allgemeiner Methode die Rede iſt. Was insbe-
ſondere die ſcharfe, individuelle Auffaſſung der Be-
griffe betrifft, ſo iſt der nicht ſeltene Mangel derſel-
ben im Landrecht weniger auffallend und fühlbar,
weil eben die materielle Vollſtändigkeit des Details
ihrer Natur nach dahin ſtrebt, dieſe Lücke auszufül-
len. Was aber die praktiſchen Regeln ſelbſt, als den
eigentlichen Zweck jedes Geſetzbuchs anlangt, ſo iſt die
Folge des hier beſchriebenen Characters, daß die mei-
ſten Beſtimmungen des Landrechts weder die Höhe
allgemeiner, leitender Grundſätze, noch die Anſchau-
lichkeit des individuellen erreichen, ſondern zwiſchen
beiden Endpunkten in der Mitte ſchweben, während
die Römer beide in ihrer naturgemäßen Verknüpfung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Savigny, Friedrich Carl von: Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg, 1814, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/savigny_gesetzgebung_1814/100>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.