Sandrart, Joachim von: L’Academia Todesca. della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. Bd. 1,1. Nürnberg, 1675.[Spaltenumbruch] Natürlichkeit/ Kräfte des Liechts und Schattens/ dermaßen hoch und angenehm in allen Theilen/ besonderlich in den Bildern/ daß dergleichen/ weder mit dem Grabstichel/ noch durch Aetzen/ im Kupfer zu erhalten ist. Etliche Mahlerey Regeln. Zum Beschluß/ folgen hier etliche zur Mahlerey-gehörige Canones oder Regeln/ die ich mir/ bey meinen Studien/ selber vorgeschrieben/ und denselben gefolget: deren sich alle/ so von dieser Edlen Kunst Profession machen/ mit nutzen bedienen können. 1. In der Practik von der Edlen Mahlerey-Kunst/ muß man/ alle deren Regeln und Gesetze/ jederzeit vor Augen haben/ und denselben folgen. 2. Die Vollkommenheit eines Werkes hierinnen/wird/ nicht durch das aussprechen hochtrabender Worte/ oder Red-Zierlichkeit ohne Erfahrung/ sondern durch rechte Wissenschaft und deren vollziehung/ erlanget. 3. Die bekannte und berühmte alt-bewährte Observanz und Gebräuche/ sind den täglichen neu-herfürkommenden leichten Manieren/ in alle Wege vorzuziehen. 4. Ein Künstler/ der etwas großes und löbliches auszubilden begehret/ muß sich vor allen Dingen befleissen/ daß er dessen/ was er eigentlich repraesentiren will/ eine vollkommene Wissenschaft habe. 5. Das Amt eines guten/ geschickten und erfahrnen Mahlers ist/ daß er/ in allen Theilen seiner Werke/ sich vollverständig zeige/ oder wenigst darinn so nahe herbey komme/ daß vom bästen zum schlechtsten ein kleiner Unterschied erscheine. 6. Wer der Ubung dieser Studien nicht beygewohnt/ oder den Mahlern zugesehen/ noch auch den jenigen/ so da von lehren und reden/ fleißig und oftmals zugehöret/ sondern allein darum für einen genug-erfahrnen Künstler sich austhut/ weil er viel gelesen hat/ der ist nicht allein sehr unweis/ sondern er betrieget nur sich selber. 7. Ob man schon in einer Sache/ den rechten Grund zu erfinden/ sich lang verweilet/ soll man darum ohne Fundament nicht verfahren/ sondern den rechten Zweck unverdrossen suchen/ nach dem Spruch: Dem Unverdrossnen ist kein Ding zu schwer/ der Fleiß macht alles ring. 8. Gleichwie die Art des Landes/ auch die Zeit/ in welcher die Historien geschehen/ die man zu repraesentiren gewillt/ unterschiedlich ist/ also erfordert die Notdurft/ daß selbiger Zeit und Landes Natur und Beschaffenheit in den Bildern und Angesichtern gebrauchet/ auch die Kleidung/ die Landschaften und Thiere/ dabey sie zu erkennen/ beobachtet werden. 9. Man soll sich an keine Manier/ Gewonheit oder angenommenen Gebrauch binden/ sondern wie die Natur immer alles verändert und anderst gebieret/ also sollen wir immerzu in allem uns verändern und von dem guten zum bässern wenden. 10. Der Einraht oder das Exempel der Vortrefflichsten/ worinn sie aestimirt sind/ soll nicht aus der acht geschlagen werden: man habe dann/ durch gründliches Examen, es noch bässer gefunden. [Spaltenumbruch]11. Die gute Werkmeister sterben nimmermehr/ im Gedächtnis der Vernünftigen; und die Früchte/ welche von den Gelehrten gezeuget worden/ sind viel wärhaftiger/ als der Unerfahrnen ihre: daher die schöne Seelen/ weil heutigs Tags die Tugenden und Künste sich nicht erhalten ohne viel Arbeit und Unkosten/ deren keines sparen/ um jener Schaar der Ruhmseeligen nach dem Tode zugesellt und zugezehlt zu werden. 12. Wir erkennen/ daß das Gesicht eine von den allergeschwindesten Wirkungen der ganzen Welt ist/ als welches augenblicklich unendliche Gestalten durchgehet und überschauet. Nichts desto minder kan es nicht alles/ augenblicklich und in particular erkennen oder distinguiren. Ein Beyspiel dessen/ ist diese ganz mit Druck-Buchstaben von der Presse überschriebene Blatseite: da man unverzüglich erstes anblicks urtheilet/ daß viel darauf geschrieben sey; was es aber für Wörter seyen/ und was sie sagen und bedeuten/ das kan niemand im ersten anblick sagen/ sondern er muß erstlich die Zeilen von Wort zu Wort durchgehen/ und ihren Innhalt erlernen. Eben also/ wann man ein hohes Gebäu oder Thurn besteigen will/ so ist natürlich/ daß man von Staffel zu Staffel hinauf gelange. Auf gleichen Schlag/ wann der angehende Mahler/ deme die Natur eine Fähigkeit zu solcher Weltberühmten himmlischen Kunst eingeflösset/ eine gründliche Wissenschaft unterschiedlicher Formen und Gestalten zu überkommen verlanget/ so ist nötig/ daß er solche von Glied zu Glied betrachte/ und nicht zu dem zweyten schreite/ ehe und bevor er das erste wol in die Gedächtniß gedrucket/ und einem Habito oder Gewonheit dieses zu machen überkommen habe. Dann wann es anderst geschiehet/ so wird entweder die köstliche Zeit verschleudert/ oder zum wenigsten das studium und die Ergreiffung der Kunst mächtig verzögert und prolongiret. Hat also der Lehrjünger mehr auf den Fleiß/ als auf die Geschwindigkeit/ sich zu verlegen. 13. Eines zierlichen Bildes Hand/ soll nicht höher als der Kopf/ der Ellenbogen nicht höher als die Achsel/ und der Fuß nicht höher als bis zum Knie/ erhoben seyn. Der Fuß soll auch nicht weiter/ als einen Fuß weit/ schreiten. 14. Es soll eines jeden Bildes Seele und Begierde ausgebildet werden/ so gar auch in den Thieren. Dann es ziemet sich nicht/ daß die zum Pflug gebrauchte Schieb-Ochsen in der zierlichen Gestalt stehen/ wie des großen Alexandri Pferd Bucephalus. Dieses kan aber wol geschehen mit der berühmten Tochter des Inachus, welche in eine Kuhe verwandelt worden/ und mag man sie mahlen/ wie sie mit aufgerichtem Haupt und flüchtigen Füssen/ auch verwickleten Schwanz/ hinweg lauffet. 15. In beobachtung der nötigen Proportion des Leibs und der Gliedmaßen des Menschen/ auch der Thiere/ ist das Hauptstuck/ daß die Gliedmaßen wol auf einander correspondiren/ und nicht ungleich/ auch nach erforderung des sexaus, zu stehen kommen. 16. Die allgemeine Maß an den Bildern/ muß der Länge nach/ und nicht nach der Dicke/ beobachtet werden. [Spaltenumbruch] Natürlichkeit/ Kräfte des Liechts und Schattens/ dermaßen hoch und angenehm in allen Theilen/ besonderlich in den Bildern/ daß dergleichen/ weder mit dem Grabstichel/ noch durch Aetzen/ im Kupfer zu erhalten ist. Etliche Mahlerey Regeln. Zum Beschluß/ folgen hier etliche zur Mahlerey-gehörige Canones oder Regeln/ die ich mir/ bey meinen Studien/ selber vorgeschrieben/ und denselben gefolget: deren sich alle/ so von dieser Edlen Kunst Profession machen/ mit nutzen bedienen können. 1. In der Practik von der Edlen Mahlerey-Kunst/ muß man/ alle deren Regeln und Gesetze/ jederzeit vor Augen haben/ und denselben folgen. 2. Die Vollkommenheit eines Werkes hierinnen/wird/ nicht durch das aussprechen hochtrabender Worte/ oder Red-Zierlichkeit ohne Erfahrung/ sondern durch rechte Wissenschaft und deren vollziehung/ erlanget. 3. Die bekannte und berühmte alt-bewährte Observanz und Gebräuche/ sind den täglichen neu-herfürkommenden leichten Manieren/ in alle Wege vorzuziehen. 4. Ein Künstler/ der etwas großes und löbliches auszubilden begehret/ muß sich vor allen Dingen befleissen/ daß er dessen/ was er eigentlich repraesentiren will/ eine vollkommene Wissenschaft habe. 5. Das Amt eines guten/ geschickten und erfahrnen Mahlers ist/ daß er/ in allen Theilen seiner Werke/ sich vollverständig zeige/ oder wenigst darinn so nahe herbey komme/ daß vom bästen zum schlechtsten ein kleiner Unterschied erscheine. 6. Wer der Ubung dieser Studien nicht beygewohnt/ oder den Mahlern zugesehen/ noch auch den jenigen/ so da von lehren und reden/ fleißig und oftmals zugehöret/ sondern allein darum für einen genug-erfahrnen Künstler sich austhut/ weil er viel gelesen hat/ der ist nicht allein sehr unweis/ sondern er betrieget nur sich selber. 7. Ob man schon in einer Sache/ den rechten Grund zu erfinden/ sich lang verweilet/ soll man darum ohne Fundament nicht verfahren/ sondern den rechten Zweck unverdrossen suchen/ nach dem Spruch: Dem Unverdrossnen ist kein Ding zu schwer/ der Fleiß macht alles ring. 8. Gleichwie die Art des Landes/ auch die Zeit/ in welcher die Historien geschehen/ die man zu repraesentiren gewillt/ unterschiedlich ist/ also erfordert die Notdurft/ daß selbiger Zeit und Landes Natur und Beschaffenheit in den Bildern und Angesichtern gebrauchet/ auch die Kleidung/ die Landschaften und Thiere/ dabey sie zu erkennen/ beobachtet werden. 9. Man soll sich an keine Manier/ Gewonheit oder angenommenen Gebrauch binden/ sondern wie die Natur immer alles verändert und anderst gebieret/ also sollen wir immerzu in allem uns verändern und von dem guten zum bässern wenden. 10. Der Einraht oder das Exempel der Vortrefflichsten/ worinn sie aestimirt sind/ soll nicht aus der acht geschlagen werden: man habe dann/ durch gründliches Examen, es noch bässer gefunden. [Spaltenumbruch]11. Die gute Werkmeister sterben nimmermehr/ im Gedächtnis der Vernünftigen; und die Früchte/ welche von den Gelehrten gezeuget worden/ sind viel wärhaftiger/ als der Unerfahrnen ihre: daher die schöne Seelen/ weil heutigs Tags die Tugenden und Künste sich nicht erhalten ohne viel Arbeit und Unkosten/ deren keines sparen/ um jener Schaar der Ruhmseeligen nach dem Tode zugesellt und zugezehlt zu werden. 12. Wir erkennen/ daß das Gesicht eine von den allergeschwindesten Wirkungen der ganzen Welt ist/ als welches augenblicklich unendliche Gestalten durchgehet und überschauet. Nichts desto minder kan es nicht alles/ augenblicklich und in particular erkennen oder distinguiren. Ein Beyspiel dessen/ ist diese ganz mit Druck-Buchstaben von der Presse überschriebene Blatseite: da man unverzüglich erstes anblicks urtheilet/ daß viel darauf geschrieben sey; was es aber für Wörter seyen/ und was sie sagen und bedeuten/ das kan niemand im ersten anblick sagen/ sondern er muß erstlich die Zeilen von Wort zu Wort durchgehen/ und ihren Innhalt erlernen. Eben also/ wann man ein hohes Gebäu oder Thurn besteigen will/ so ist natürlich/ daß man von Staffel zu Staffel hinauf gelange. Auf gleichen Schlag/ wann der angehende Mahler/ deme die Natur eine Fähigkeit zu solcher Weltberühmten himmlischen Kunst eingeflösset/ eine gründliche Wissenschaft unterschiedlicher Formen und Gestalten zu überkommen verlanget/ so ist nötig/ daß er solche von Glied zu Glied betrachte/ und nicht zu dem zweyten schreite/ ehe und bevor er das erste wol in die Gedächtniß gedrucket/ und einem Habito oder Gewonheit dieses zu machen überkommen habe. Dann wann es anderst geschiehet/ so wird entweder die köstliche Zeit verschleudert/ oder zum wenigsten das studium und die Ergreiffung der Kunst mächtig verzögert und prolongiret. Hat also der Lehrjünger mehr auf den Fleiß/ als auf die Geschwindigkeit/ sich zu verlegen. 13. Eines zierlichen Bildes Hand/ soll nicht höher als der Kopf/ der Ellenbogen nicht höher als die Achsel/ und der Fuß nicht höher als bis zum Knie/ erhoben seyn. Der Fuß soll auch nicht weiter/ als einen Fuß weit/ schreiten. 14. Es soll eines jeden Bildes Seele und Begierde ausgebildet werden/ so gar auch in den Thieren. Dann es ziemet sich nicht/ daß die zum Pflug gebrauchte Schieb-Ochsen in der zierlichen Gestalt stehen/ wie des großen Alexandri Pferd Bucephalus. Dieses kan aber wol geschehen mit der berühmten Tochter des Inachus, welche in eine Kuhe verwandelt worden/ und mag man sie mahlen/ wie sie mit aufgerichtem Haupt und flüchtigen Füssen/ auch verwickleten Schwanz/ hinweg lauffet. 15. In beobachtung der nötigen Proportion des Leibs und der Gliedmaßen des Menschen/ auch der Thiere/ ist das Hauptstuck/ daß die Gliedmaßen wol auf einander correspondiren/ und nicht ungleich/ auch nach erforderung des sexûs, zu stehen kommen. 16. Die allgemeine Maß an den Bildern/ muß der Länge nach/ und nicht nach der Dicke/ beobachtet werden. <TEI> <text xml:id="ta1675"> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div> <p xml:id="p192.4"><pb facs="#f0289" xml:id="pb-193" n="[I, Buch 3 (Malerei), S. 102]"/><cb/> Natürlichkeit/ Kräfte des Liechts und Schattens/ dermaßen hoch und angenehm in allen Theilen/ besonderlich in den Bildern/ daß dergleichen/ weder mit dem Grabstichel/ noch durch Aetzen/ im Kupfer zu erhalten ist.</p> <p xml:id="p193.1"><note place="right">Etliche Mahlerey Regeln.</note> Zum Beschluß/ folgen hier etliche zur Mahlerey-gehörige <hi rendition="#aq">Canones</hi> oder Regeln/ die <persName ref="http://ta.sandrart.net/-person-836">ich</persName> <persName ref="http://ta.sandrart.net/-person-836">mir</persName>/ bey meinen <hi rendition="#aq">Studien</hi>/ selber vorgeschrieben/ und denselben gefolget: deren sich alle/ so von dieser Edlen Kunst <hi rendition="#aq">Profession</hi> machen/ mit nutzen bedienen können.</p> <p xml:id="p193.2">1. 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Ein Beyspiel dessen/ ist diese ganz mit Druck-Buchstaben von der Presse überschriebene Blatseite: da man unverzüglich erstes anblicks urtheilet/ daß viel darauf geschrieben sey; was es aber für Wörter seyen/ und was sie sagen und bedeuten/ das kan niemand im ersten anblick sagen/ sondern er muß erstlich die Zeilen von Wort zu Wort durchgehen/ und ihren Innhalt erlernen. Eben also/ wann man ein hohes Gebäu oder Thurn besteigen will/ so ist natürlich/ daß man von Staffel zu Staffel hinauf gelange. Auf gleichen Schlag/ wann der angehende Mahler/ deme die Natur eine Fähigkeit zu solcher Weltberühmten himmlischen Kunst eingeflösset/ eine gründliche Wissenschaft unterschiedlicher Formen und Gestalten zu überkommen verlanget/ so ist nötig/ daß er solche von Glied zu Glied betrachte/ und nicht zu dem zweyten schreite/ ehe und bevor er das erste wol in die Gedächtniß gedrucket/ und einem <hi rendition="#aq">Habito</hi> oder Gewonheit dieses zu machen überkommen habe. 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Natürlichkeit/ Kräfte des Liechts und Schattens/ dermaßen hoch und angenehm in allen Theilen/ besonderlich in den Bildern/ daß dergleichen/ weder mit dem Grabstichel/ noch durch Aetzen/ im Kupfer zu erhalten ist.
Zum Beschluß/ folgen hier etliche zur Mahlerey-gehörige Canones oder Regeln/ die ich mir/ bey meinen Studien/ selber vorgeschrieben/ und denselben gefolget: deren sich alle/ so von dieser Edlen Kunst Profession machen/ mit nutzen bedienen können.
Etliche Mahlerey Regeln.1. In der Practik von der Edlen Mahlerey-Kunst/ muß man/ alle deren Regeln und Gesetze/ jederzeit vor Augen haben/ und denselben folgen.
2. Die Vollkommenheit eines Werkes hierinnen/wird/ nicht durch das aussprechen hochtrabender Worte/ oder Red-Zierlichkeit ohne Erfahrung/ sondern durch rechte Wissenschaft und deren vollziehung/ erlanget.
3. Die bekannte und berühmte alt-bewährte Observanz und Gebräuche/ sind den täglichen neu-herfürkommenden leichten Manieren/ in alle Wege vorzuziehen.
4. Ein Künstler/ der etwas großes und löbliches auszubilden begehret/ muß sich vor allen Dingen befleissen/ daß er dessen/ was er eigentlich repraesentiren will/ eine vollkommene Wissenschaft habe.
5. Das Amt eines guten/ geschickten und erfahrnen Mahlers ist/ daß er/ in allen Theilen seiner Werke/ sich vollverständig zeige/ oder wenigst darinn so nahe herbey komme/ daß vom bästen zum schlechtsten ein kleiner Unterschied erscheine.
6. Wer der Ubung dieser Studien nicht beygewohnt/ oder den Mahlern zugesehen/ noch auch den jenigen/ so da von lehren und reden/ fleißig und oftmals zugehöret/ sondern allein darum für einen genug-erfahrnen Künstler sich austhut/ weil er viel gelesen hat/ der ist nicht allein sehr unweis/ sondern er betrieget nur sich selber.
7. Ob man schon in einer Sache/ den rechten Grund zu erfinden/ sich lang verweilet/ soll man darum ohne Fundament nicht verfahren/ sondern den rechten Zweck unverdrossen suchen/ nach dem Spruch:
Dem Unverdrossnen ist kein Ding zu schwer/ der Fleiß macht alles ring.
8. Gleichwie die Art des Landes/ auch die Zeit/ in welcher die Historien geschehen/ die man zu repraesentiren gewillt/ unterschiedlich ist/ also erfordert die Notdurft/ daß selbiger Zeit und Landes Natur und Beschaffenheit in den Bildern und Angesichtern gebrauchet/ auch die Kleidung/ die Landschaften und Thiere/ dabey sie zu erkennen/ beobachtet werden.
9. Man soll sich an keine Manier/ Gewonheit oder angenommenen Gebrauch binden/ sondern wie die Natur immer alles verändert und anderst gebieret/ also sollen wir immerzu in allem uns verändern und von dem guten zum bässern wenden.
10. Der Einraht oder das Exempel der Vortrefflichsten/ worinn sie aestimirt sind/ soll nicht aus der acht geschlagen werden: man habe dann/ durch gründliches Examen, es noch bässer gefunden.
11. Die gute Werkmeister sterben nimmermehr/ im Gedächtnis der Vernünftigen; und die Früchte/ welche von den Gelehrten gezeuget worden/ sind viel wärhaftiger/ als der Unerfahrnen ihre: daher die schöne Seelen/ weil heutigs Tags die Tugenden und Künste sich nicht erhalten ohne viel Arbeit und Unkosten/ deren keines sparen/ um jener Schaar der Ruhmseeligen nach dem Tode zugesellt und zugezehlt zu werden.
12. Wir erkennen/ daß das Gesicht eine von den allergeschwindesten Wirkungen der ganzen Welt ist/ als welches augenblicklich unendliche Gestalten durchgehet und überschauet. Nichts desto minder kan es nicht alles/ augenblicklich und in particular erkennen oder distinguiren. Ein Beyspiel dessen/ ist diese ganz mit Druck-Buchstaben von der Presse überschriebene Blatseite: da man unverzüglich erstes anblicks urtheilet/ daß viel darauf geschrieben sey; was es aber für Wörter seyen/ und was sie sagen und bedeuten/ das kan niemand im ersten anblick sagen/ sondern er muß erstlich die Zeilen von Wort zu Wort durchgehen/ und ihren Innhalt erlernen. Eben also/ wann man ein hohes Gebäu oder Thurn besteigen will/ so ist natürlich/ daß man von Staffel zu Staffel hinauf gelange. Auf gleichen Schlag/ wann der angehende Mahler/ deme die Natur eine Fähigkeit zu solcher Weltberühmten himmlischen Kunst eingeflösset/ eine gründliche Wissenschaft unterschiedlicher Formen und Gestalten zu überkommen verlanget/ so ist nötig/ daß er solche von Glied zu Glied betrachte/ und nicht zu dem zweyten schreite/ ehe und bevor er das erste wol in die Gedächtniß gedrucket/ und einem Habito oder Gewonheit dieses zu machen überkommen habe. Dann wann es anderst geschiehet/ so wird entweder die köstliche Zeit verschleudert/ oder zum wenigsten das studium und die Ergreiffung der Kunst mächtig verzögert und prolongiret. Hat also der Lehrjünger mehr auf den Fleiß/ als auf die Geschwindigkeit/ sich zu verlegen.
13. Eines zierlichen Bildes Hand/ soll nicht höher als der Kopf/ der Ellenbogen nicht höher als die Achsel/ und der Fuß nicht höher als bis zum Knie/ erhoben seyn. Der Fuß soll auch nicht weiter/ als einen Fuß weit/ schreiten.
14. Es soll eines jeden Bildes Seele und Begierde ausgebildet werden/ so gar auch in den Thieren. Dann es ziemet sich nicht/ daß die zum Pflug gebrauchte Schieb-Ochsen in der zierlichen Gestalt stehen/ wie des großen Alexandri Pferd Bucephalus. Dieses kan aber wol geschehen mit der berühmten Tochter des Inachus, welche in eine Kuhe verwandelt worden/ und mag man sie mahlen/ wie sie mit aufgerichtem Haupt und flüchtigen Füssen/ auch verwickleten Schwanz/ hinweg lauffet.
15. In beobachtung der nötigen Proportion des Leibs und der Gliedmaßen des Menschen/ auch der Thiere/ ist das Hauptstuck/ daß die Gliedmaßen wol auf einander correspondiren/ und nicht ungleich/ auch nach erforderung des sexûs, zu stehen kommen.
16. Die allgemeine Maß an den Bildern/ muß der Länge nach/ und nicht nach der Dicke/ beobachtet werden.
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