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Sandrart, Joachim von: L’Academia Todesca. della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. Bd. 1,1. Nürnberg, 1675.

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17. Unter den lobwürdigen und wunderbaren Dingen der Natur/ ist auch dieses/ daß in einer specie unterschiedliche Formen begriffen/ welche niemals einander just und in allen gleich sind. Dahero soll der Nachfolger der Natur/ die Gliedmassen gnau und wol beobachten.

18. Das Widerspiel/ nämlich lange Füße und ein kurzer Hals/ eine änge Brust und lange Arme/ soll man/ als heßlich und unformlich/ fliehen/ und alles/ nach Unterschied der Natur/ unterscheiden.

19. Wann du willens bist/ etwas nach dem Leben zu zeichnen/ so stehe zwey- auch wol dreymal so weit von deme/ was du nachzeichnen wilst/ als dessen Größe ist/ und habe vor dir etliche gleiche Linien in der imagination, damit besichtige/ was du zeichnest: alsdann werden dir/ solche Vorbildungs-Linien/ dessen rechte Erkäntnis geben. Dieses ist in allem Vornehmen/ auch in nachzeichnung der Antich-Studien/ zu observiren. Hierbey aber ist zu merken/ weil die berühmteste Antichen in der Vollkommenheit all-hoch gestiegen/ daß man denen just nachfolge/ und weder davon/ noch darzu thue: dann sonst irret man sehr weit/ wie vielen Franzosen/ auch Niederländern/ oft wiederfahren/ die ihre Sachen/ mit der von ihren Lehrmeistern angenommenen eignen bösen Manier/ nach den Antichen/ gemacht; daher solche/ wann sie auf dem Papier gestanden/ des guten wenig gehabt/ sondern mehr ihrem Callot oder Perier, auch des Sprangers/ Golzius oder Rubens Manier gefolget/ oder wenigst das ansehen gehabt/ daß sie ihnen gefolget. Ist derowegen den gerechten guten Antichen/ sowol als den raresten Gemählen/ ohne änderung/ geraden Wegs nachzufolgen: weil selbige/ gleichwie die heilige Schrift/ weder Castrirung noch Zusatz leiden.

20. Aus den kleinen Kunst-Sachen sind die Fehler nicht so gut/ als wie in den Großen/ zu erkennen. Die Ursach ist/ weil jene nicht können mit allen den nötigen Theiln erfüllet werden/ als wie in einem Menschen oder Thier von Lebens-Größe. Wann dann das Werk also nicht voll ausgemacht ist/ so kan man auch die Fehler so leicht nicht darinn verspüren. Bey Exempel/ wann du auf zwey- oder dreyhuntert Schritte weit einen Mann mit allem fleiß ansehen wirst/ so kanst du wegen der Distanz nicht urtheilen/ ob er schön oder häßlich/ ob er sonderbarer oder gemeiner Gestalt sey. Und wann du dieses Manns verkleinerung recht erkennen wilst/ so halte deinen Finger nur eine Spann weit von deinem Aug/ daß dessen Spitz unter des von weitem[Spaltenumbruch] stehenden Manns Füßen austrifft: alsdann hebe den Finger auf und wider nieder an dasselbige Ort/ so wird deinem Aug eine unglaubliche Verkleinenerung erscheinen.

21. Man muß zugleich/ überall und bey allen Leuten/ doch auch zuhaus oder allein seyn: das ist/ man muß mit seinen Gedanken allenthalben auf alle taugliche objecta ausschweiffen/ die man/ zu seinem Proposito dienlich/ jemals gesehen/ und doch solche zuhaus allein mit sich selbsten überlegen/ und das bäste davon auserlesen: dann also wird der Lehrling bald eine löbliche Natürlichkeit in seinen Werken erlangen.

22. Wann man von einer fürnehmen Historie ein oder mehr Modelle gemacht/ soll man mit einem vertrauten Freund zu raht gehen/ und selbiges examiniren lassen/ auch aller Erinnerung fleißig nachkommen/ und trachten/ daß alles der Historie gemäß und aufs zierlichste ersonnen seye: alsdann hat man dem Leben zu folgen.

23. Der Mahler soll allezeit/ mehr nach der Ehre/ als nach Nutzen/ trachten/ und nichtes dahin eilen: wie sich viele praecipitiren/ dadurch eine böse Gewonheit annehmen/ und zu grund gehen; da hingegen durch viel und beständiges studiren/ bey mehrung des Fleißes/ der Verstand sich ergänzet/ auch das Lob und die Ehre von sich selbst den Nutzen mit sich bringet.

24. Es hat Horatius gar wol gesagt/ daß alsdann ein Werk zu seiner Vollkommenheit gelanget sey/ wann es dem Besitzer eine Freude/ und dem Verfärtiger den verhofften Nutzen und Frommen erwerbe.

25. Obschon unterweilen etliche geringe und unachtbare Fehler mit unterlauffen/ so soll doch/ wegen anderer Vortrefflichkeit/ das Werk ungetadlet bleiben: gleichwie man die Künstlichkeit eines weitberühmten Lautenschlagers/ wegen eines einigen falschen Säiten-griffs/ nicht beschämet: auch ein guter Bogenschütz unbillich verworffen wird/ wann er einmal des Schwarzen verfehlet. Die bäste und herrlichste Gemälde mißfallen oft anfangs den Augen/ bis daß man den Intento und Zweck des Künstlers erreichet. Darum soll man die Gemälde in das Gemüte und den Verstand langsam/ wie die Hüner das Wasser durch Schnabel und Schlund/ hinablassen; und alsdann erst sein Urtheil darüber ergehen lassen. Dergleichen Höflichkeit erwartet auch gegenwärtiges Buch von dem Edlen Leser/ welches sich hiermit/ neben dem Autore, in dessen Wolneigung empfihlet.

So ist die Mahlerey nun Allen vorgemahlet.
Wer Kunst im Lesen schöpft/ dem ist die Müh bezahlet.
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17. Unter den lobwürdigen und wunderbaren Dingen der Natur/ ist auch dieses/ daß in einer specie unterschiedliche Formen begriffen/ welche niemals einander just und in allen gleich sind. Dahero soll der Nachfolger der Natur/ die Gliedmassen gnau und wol beobachten.

18. Das Widerspiel/ nämlich lange Füße und ein kurzer Hals/ eine änge Brust und lange Arme/ soll man/ als heßlich und unformlich/ fliehen/ und alles/ nach Unterschied der Natur/ unterscheiden.

19. Wann du willens bist/ etwas nach dem Leben zu zeichnen/ so stehe zwey- auch wol dreymal so weit von deme/ was du nachzeichnen wilst/ als dessen Größe ist/ und habe vor dir etliche gleiche Linien in der imagination, damit besichtige/ was du zeichnest: alsdann werden dir/ solche Vorbildungs-Linien/ dessen rechte Erkäntnis geben. Dieses ist in allem Vornehmen/ auch in nachzeichnung der Antich-Studien/ zu observiren. Hierbey aber ist zu merken/ weil die berühmteste Antichen in der Vollkommenheit all-hoch gestiegen/ daß man denen just nachfolge/ und weder davon/ noch darzu thue: dann sonst irret man sehr weit/ wie vielen Franzosen/ auch Niederländern/ oft wiederfahren/ die ihre Sachen/ mit der von ihren Lehrmeistern angenommenen eignen bösen Manier/ nach den Antichen/ gemacht; daher solche/ wann sie auf dem Papier gestanden/ des guten wenig gehabt/ sondern mehr ihrem Callot oder Perier, auch des Sprangers/ Golzius oder Rubens Manier gefolget/ oder wenigst das ansehen gehabt/ daß sie ihnen gefolget. Ist derowegen den gerechten guten Antichen/ sowol als den raresten Gemählen/ ohne änderung/ geraden Wegs nachzufolgen: weil selbige/ gleichwie die heilige Schrift/ weder Castrirung noch Zusatz leiden.

20. Aus den kleinen Kunst-Sachen sind die Fehler nicht so gut/ als wie in den Großen/ zu erkennen. Die Ursach ist/ weil jene nicht können mit allen den nötigen Theiln erfüllet werden/ als wie in einem Menschen oder Thier von Lebens-Größe. Wann dann das Werk also nicht voll ausgemacht ist/ so kan man auch die Fehler so leicht nicht darinn verspüren. Bey Exempel/ wann du auf zwey- oder dreyhuntert Schritte weit einen Mann mit allem fleiß ansehen wirst/ so kanst du wegen der Distanz nicht urtheilen/ ob er schön oder häßlich/ ob er sonderbarer oder gemeiner Gestalt sey. Und wann du dieses Manns verkleinerung recht erkennen wilst/ so halte deinen Finger nur eine Spann weit von deinem Aug/ daß dessen Spitz unter des von weitem[Spaltenumbruch] stehenden Manns Füßen austrifft: alsdann hebe den Finger auf und wider nieder an dasselbige Ort/ so wird deinem Aug eine unglaubliche Verkleinenerung erscheinen.

21. Man muß zugleich/ überall und bey allen Leuten/ doch auch zuhaus oder allein seyn: das ist/ man muß mit seinen Gedanken allenthalben auf alle taugliche objecta ausschweiffen/ die man/ zu seinem Proposito dienlich/ jemals gesehen/ und doch solche zuhaus allein mit sich selbsten überlegen/ und das bäste davon auserlesen: dann also wird der Lehrling bald eine löbliche Natürlichkeit in seinen Werken erlangen.

22. Wann man von einer fürnehmen Historie ein oder mehr Modelle gemacht/ soll man mit einem vertrauten Freund zu raht gehen/ und selbiges examiniren lassen/ auch aller Erinnerung fleißig nachkommen/ und trachten/ daß alles der Historie gemäß und aufs zierlichste ersonnen seye: alsdann hat man dem Leben zu folgen.

23. Der Mahler soll allezeit/ mehr nach der Ehre/ als nach Nutzen/ trachten/ und nichtes dahin eilen: wie sich viele praecipitiren/ dadurch eine böse Gewonheit annehmen/ und zu grund gehen; da hingegen durch viel und beständiges studiren/ bey mehrung des Fleißes/ der Verstand sich ergänzet/ auch das Lob und die Ehre von sich selbst den Nutzen mit sich bringet.

24. Es hat Horatius gar wol gesagt/ daß alsdann ein Werk zu seiner Vollkommenheit gelanget sey/ wann es dem Besitzer eine Freude/ und dem Verfärtiger den verhofften Nutzen und Frommen erwerbe.

25. Obschon unterweilen etliche geringe und unachtbare Fehler mit unterlauffen/ so soll doch/ wegen anderer Vortrefflichkeit/ das Werk ungetadlet bleiben: gleichwie man die Künstlichkeit eines weitberühmten Lautenschlagers/ wegen eines einigen falschen Säiten-griffs/ nicht beschämet: auch ein guter Bogenschütz unbillich verworffen wird/ wann er einmal des Schwarzen verfehlet. Die bäste und herrlichste Gemälde mißfallen oft anfangs den Augen/ bis daß man den Intento und Zweck des Künstlers erreichet. Darum soll man die Gemälde in das Gemüte und den Verstand langsam/ wie die Hüner das Wasser durch Schnabel und Schlund/ hinablassen; und alsdann erst sein Urtheil darüber ergehen lassen. Dergleichen Höflichkeit erwartet auch gegenwärtiges Buch von dem Edlen Leser/ welches sich hiermit/ neben dem Autore, in dessen Wolneigung empfihlet.

So ist die Mahlerey nun Allen vorgemahlet.
Wer Kunst im Lesen schöpft/ dem ist die Müh bezahlet.
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[[I, Buch 3 (Malerei), S. 103]/0290] 17. Unter den lobwürdigen und wunderbaren Dingen der Natur/ ist auch dieses/ daß in einer specie unterschiedliche Formen begriffen/ welche niemals einander just und in allen gleich sind. Dahero soll der Nachfolger der Natur/ die Gliedmassen gnau und wol beobachten. 18. Das Widerspiel/ nämlich lange Füße und ein kurzer Hals/ eine änge Brust und lange Arme/ soll man/ als heßlich und unformlich/ fliehen/ und alles/ nach Unterschied der Natur/ unterscheiden. 19. Wann du willens bist/ etwas nach dem Leben zu zeichnen/ so stehe zwey- auch wol dreymal so weit von deme/ was du nachzeichnen wilst/ als dessen Größe ist/ und habe vor dir etliche gleiche Linien in der imagination, damit besichtige/ was du zeichnest: alsdann werden dir/ solche Vorbildungs-Linien/ dessen rechte Erkäntnis geben. Dieses ist in allem Vornehmen/ auch in nachzeichnung der Antich-Studien/ zu observiren. Hierbey aber ist zu merken/ weil die berühmteste Antichen in der Vollkommenheit all-hoch gestiegen/ daß man denen just nachfolge/ und weder davon/ noch darzu thue: dann sonst irret man sehr weit/ wie vielen Franzosen/ auch Niederländern/ oft wiederfahren/ die ihre Sachen/ mit der von ihren Lehrmeistern angenommenen eignen bösen Manier/ nach den Antichen/ gemacht; daher solche/ wann sie auf dem Papier gestanden/ des guten wenig gehabt/ sondern mehr ihrem Callot oder Perier, auch des Sprangers/ Golzius oder Rubens Manier gefolget/ oder wenigst das ansehen gehabt/ daß sie ihnen gefolget. Ist derowegen den gerechten guten Antichen/ sowol als den raresten Gemählen/ ohne änderung/ geraden Wegs nachzufolgen: weil selbige/ gleichwie die heilige Schrift/ weder Castrirung noch Zusatz leiden. 20. Aus den kleinen Kunst-Sachen sind die Fehler nicht so gut/ als wie in den Großen/ zu erkennen. Die Ursach ist/ weil jene nicht können mit allen den nötigen Theiln erfüllet werden/ als wie in einem Menschen oder Thier von Lebens-Größe. Wann dann das Werk also nicht voll ausgemacht ist/ so kan man auch die Fehler so leicht nicht darinn verspüren. Bey Exempel/ wann du auf zwey- oder dreyhuntert Schritte weit einen Mann mit allem fleiß ansehen wirst/ so kanst du wegen der Distanz nicht urtheilen/ ob er schön oder häßlich/ ob er sonderbarer oder gemeiner Gestalt sey. Und wann du dieses Manns verkleinerung recht erkennen wilst/ so halte deinen Finger nur eine Spann weit von deinem Aug/ daß dessen Spitz unter des von weitem stehenden Manns Füßen austrifft: alsdann hebe den Finger auf und wider nieder an dasselbige Ort/ so wird deinem Aug eine unglaubliche Verkleinenerung erscheinen. 21. Man muß zugleich/ überall und bey allen Leuten/ doch auch zuhaus oder allein seyn: das ist/ man muß mit seinen Gedanken allenthalben auf alle taugliche objecta ausschweiffen/ die man/ zu seinem Proposito dienlich/ jemals gesehen/ und doch solche zuhaus allein mit sich selbsten überlegen/ und das bäste davon auserlesen: dann also wird der Lehrling bald eine löbliche Natürlichkeit in seinen Werken erlangen. 22. Wann man von einer fürnehmen Historie ein oder mehr Modelle gemacht/ soll man mit einem vertrauten Freund zu raht gehen/ und selbiges examiniren lassen/ auch aller Erinnerung fleißig nachkommen/ und trachten/ daß alles der Historie gemäß und aufs zierlichste ersonnen seye: alsdann hat man dem Leben zu folgen. 23. Der Mahler soll allezeit/ mehr nach der Ehre/ als nach Nutzen/ trachten/ und nichtes dahin eilen: wie sich viele praecipitiren/ dadurch eine böse Gewonheit annehmen/ und zu grund gehen; da hingegen durch viel und beständiges studiren/ bey mehrung des Fleißes/ der Verstand sich ergänzet/ auch das Lob und die Ehre von sich selbst den Nutzen mit sich bringet. 24. Es hat Horatius gar wol gesagt/ daß alsdann ein Werk zu seiner Vollkommenheit gelanget sey/ wann es dem Besitzer eine Freude/ und dem Verfärtiger den verhofften Nutzen und Frommen erwerbe. 25. Obschon unterweilen etliche geringe und unachtbare Fehler mit unterlauffen/ so soll doch/ wegen anderer Vortrefflichkeit/ das Werk ungetadlet bleiben: gleichwie man die Künstlichkeit eines weitberühmten Lautenschlagers/ wegen eines einigen falschen Säiten-griffs/ nicht beschämet: auch ein guter Bogenschütz unbillich verworffen wird/ wann er einmal des Schwarzen verfehlet. Die bäste und herrlichste Gemälde mißfallen oft anfangs den Augen/ bis daß man den Intento und Zweck des Künstlers erreichet. Darum soll man die Gemälde in das Gemüte und den Verstand langsam/ wie die Hüner das Wasser durch Schnabel und Schlund/ hinablassen; und alsdann erst sein Urtheil darüber ergehen lassen. Dergleichen Höflichkeit erwartet auch gegenwärtiges Buch von dem Edlen Leser/ welches sich hiermit/ neben dem Autore, in dessen Wolneigung empfihlet. So ist die Mahlerey nun Allen vorgemahlet. Wer Kunst im Lesen schöpft/ dem ist die Müh bezahlet. [Abbildung [Abbildung] ]

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Zitationshilfe: Sandrart, Joachim von: L’Academia Todesca. della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste. Bd. 1,1. Nürnberg, 1675, S. [I, Buch 3 (Malerei), S. 103]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sandrart_academie0101_1675/290>, abgerufen am 24.11.2024.