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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Frömmigkeit des Erlösers.
Himmelreich kommen. (Matth. 7, 21.) Der Baum
hat oft viel Aeste und Blätter, aber keine Früchte. Oft
kommt die Blüthe zum Vorschein, aber ein rauher
Windstoß wirft sie ab, die Raupe zerstört sie, die Son-
nenhitze trocknet sie aus, der Regen wäscht die Farbe ab,
oder die geilen Wasserzweige rauben den guten Keimen
die Säfte, das Jahr lauft ab, und der Gärtner findet
keine Erndte. Jedes Laster hat eine grobe Seite, wo-
durch es sich gleich für das, was es ist, ankündigt, aber
die Arglist der Menschen kann es auch verfeinern, und
überschleyern. Und unser Herz -- Glücklich ist, der
das glaubt! ist geschäftig, ist erfinderisch, uns selbst und
andre zu betrügen. Die scharfsinnigsten Beobachter des
Menschen haben denen, die zur wahren Weisheit gelan-
gen wollen, die Regel gegeben, sich vor sich selbst am
meisten in Acht zu nehmen, ihr eignes Herz als ihren
größten Feind anzusehen. Unsre Tugend gleicht gar oft
den Dingen, die Gewinnsucht und Betrug mit schöner
Farbe überstreicht, um die Unerfahrnen zu täuschen.
Das Volk, das Gott ehemals besonders liebte, und das
jezt in so kläglichen Umständen unter unsern Augen her-
umgeht, hatte den größten Eifer in der Religion, so lang
man sie nach dem Aeusserlichen beurtheilte. Mit ihren
Lippen ehrten sie Gott. Kidron war immer roth vom
Opferblut. Die Altäre dampften beständig, der Tem-
pel ertönte immer von Lobgesängen, aber ihr Herz war
sern von Gott. Wie viele Christen gleichen diesen
Jsraeliten! Sie loben die Religion, aber es ist doch kein
Eifer, kein wahrer Ernst, vollkommen zu werden in der
Liebe Gottes. Träge Wünsche, angewöhnte Gebete,
kalte Seufzer, sromme Minen, heilige Gebräuche, ein

guter

Frömmigkeit des Erlöſers.
Himmelreich kommen. (Matth. 7, 21.) Der Baum
hat oft viel Aeſte und Blätter, aber keine Früchte. Oft
kommt die Blüthe zum Vorſchein, aber ein rauher
Windſtoß wirft ſie ab, die Raupe zerſtört ſie, die Son-
nenhitze trocknet ſie aus, der Regen wäſcht die Farbe ab,
oder die geilen Waſſerzweige rauben den guten Keimen
die Säfte, das Jahr lauft ab, und der Gärtner findet
keine Erndte. Jedes Laſter hat eine grobe Seite, wo-
durch es ſich gleich für das, was es iſt, ankündigt, aber
die Argliſt der Menſchen kann es auch verfeinern, und
überſchleyern. Und unſer Herz — Glücklich iſt, der
das glaubt! iſt geſchäftig, iſt erfinderiſch, uns ſelbſt und
andre zu betrügen. Die ſcharfſinnigſten Beobachter des
Menſchen haben denen, die zur wahren Weisheit gelan-
gen wollen, die Regel gegeben, ſich vor ſich ſelbſt am
meiſten in Acht zu nehmen, ihr eignes Herz als ihren
größten Feind anzuſehen. Unſre Tugend gleicht gar oft
den Dingen, die Gewinnſucht und Betrug mit ſchöner
Farbe überſtreicht, um die Unerfahrnen zu täuſchen.
Das Volk, das Gott ehemals beſonders liebte, und das
jezt in ſo kläglichen Umſtänden unter unſern Augen her-
umgeht, hatte den größten Eifer in der Religion, ſo lang
man ſie nach dem Aeuſſerlichen beurtheilte. Mit ihren
Lippen ehrten ſie Gott. Kidron war immer roth vom
Opferblut. Die Altäre dampften beſtändig, der Tem-
pel ertönte immer von Lobgeſängen, aber ihr Herz war
ſern von Gott. Wie viele Chriſten gleichen dieſen
Jſraeliten! Sie loben die Religion, aber es iſt doch kein
Eifer, kein wahrer Ernſt, vollkommen zu werden in der
Liebe Gottes. Träge Wünſche, angewöhnte Gebete,
kalte Seufzer, ſromme Minen, heilige Gebräuche, ein

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[78/0084] Frömmigkeit des Erlöſers. Himmelreich kommen. (Matth. 7, 21.) Der Baum hat oft viel Aeſte und Blätter, aber keine Früchte. Oft kommt die Blüthe zum Vorſchein, aber ein rauher Windſtoß wirft ſie ab, die Raupe zerſtört ſie, die Son- nenhitze trocknet ſie aus, der Regen wäſcht die Farbe ab, oder die geilen Waſſerzweige rauben den guten Keimen die Säfte, das Jahr lauft ab, und der Gärtner findet keine Erndte. Jedes Laſter hat eine grobe Seite, wo- durch es ſich gleich für das, was es iſt, ankündigt, aber die Argliſt der Menſchen kann es auch verfeinern, und überſchleyern. Und unſer Herz — Glücklich iſt, der das glaubt! iſt geſchäftig, iſt erfinderiſch, uns ſelbſt und andre zu betrügen. Die ſcharfſinnigſten Beobachter des Menſchen haben denen, die zur wahren Weisheit gelan- gen wollen, die Regel gegeben, ſich vor ſich ſelbſt am meiſten in Acht zu nehmen, ihr eignes Herz als ihren größten Feind anzuſehen. Unſre Tugend gleicht gar oft den Dingen, die Gewinnſucht und Betrug mit ſchöner Farbe überſtreicht, um die Unerfahrnen zu täuſchen. Das Volk, das Gott ehemals beſonders liebte, und das jezt in ſo kläglichen Umſtänden unter unſern Augen her- umgeht, hatte den größten Eifer in der Religion, ſo lang man ſie nach dem Aeuſſerlichen beurtheilte. Mit ihren Lippen ehrten ſie Gott. Kidron war immer roth vom Opferblut. Die Altäre dampften beſtändig, der Tem- pel ertönte immer von Lobgeſängen, aber ihr Herz war ſern von Gott. Wie viele Chriſten gleichen dieſen Jſraeliten! Sie loben die Religion, aber es iſt doch kein Eifer, kein wahrer Ernſt, vollkommen zu werden in der Liebe Gottes. Träge Wünſche, angewöhnte Gebete, kalte Seufzer, ſromme Minen, heilige Gebräuche, ein guter

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/84>, abgerufen am 24.11.2024.