Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Frömmigkeit des Erlös. Unsre Gleichgült. Es giebt Menschen, die immer Lobreden auf die Tugend,auf die Menschenfreundschaft, auf die Vaterlandsliebe halten, und dabey doch höchst gewissenlos, nachläßig, und unachtsam in ihrem Amt, in ihrem Hauswesen, in der Erziehung der Kinder sind, und selber niemals fromm und tugendhaft handeln. Reichthum und Geburt bla- sen manches Herz auf, und verderben es in der zarten Jugend. Die schimmerndsten Ehrenstellen stiften Un- einigkeiten, die Glückseligkeiten des Lebens erwecken den Neid, weil sie oft nur dazu angewendet werden, andre zu verkleinern, damit man das Vergnügen des Adlers hat, die Würmer tief unter seiner eignen Größe herumkrie- chen zu sehen. Traurig ist es, daß selbst die Vorzüge des Verstandes auch oft Verschlimmerung des morali- schen Charakters nach sich ziehen, und daß so viele unbe- grenzte Wünsche, die sich jeder erlaubt, nothwendig zu- sammenstoßen, sich durchkreuzen, verirren, in Nichts übergehen, und mit dem kostbaren Raub unsrer Ruhe endlich verschwinden müssen. Aber unser Erlöser dachte groß, empfand für alle, lebte gemeinnützig, handelte im- mer edel, that alles aus den erhabensten Bewegungsgrün- den, betete täglich, betete inbrünstig, litt manches, und schwieg dazu, war munter ohne Leichtsinnigkeit, war hei- lig ohne Rauhigkeit und finstre Milzsucht, unternahm jede Arbeit mit heiterm frohem Muth, verachtete seine Feinde, und reizte sie doch nicht, sah hoch über die Spiele der Kinder und der Greisen weg, hatte immer das Ziel zu dem er laufen sollte, im Auge, und war noch im Tode ein Denkmal der Frömmigkeit und der Wohlthätigkeit! Wer unter uns gleicht diesem Muster? Täglich hörte Er das Wimmern der Elenden, und ward nie verdrüß- lich, E 4
Frömmigkeit des Erlöſ. Unſre Gleichgült. Es giebt Menſchen, die immer Lobreden auf die Tugend,auf die Menſchenfreundſchaft, auf die Vaterlandsliebe halten, und dabey doch höchſt gewiſſenlos, nachläßig, und unachtſam in ihrem Amt, in ihrem Hausweſen, in der Erziehung der Kinder ſind, und ſelber niemals fromm und tugendhaft handeln. Reichthum und Geburt bla- ſen manches Herz auf, und verderben es in der zarten Jugend. Die ſchimmerndſten Ehrenſtellen ſtiften Un- einigkeiten, die Glückſeligkeiten des Lebens erwecken den Neid, weil ſie oft nur dazu angewendet werden, andre zu verkleinern, damit man das Vergnügen des Adlers hat, die Würmer tief unter ſeiner eignen Größe herumkrie- chen zu ſehen. Traurig iſt es, daß ſelbſt die Vorzüge des Verſtandes auch oft Verſchlimmerung des morali- ſchen Charakters nach ſich ziehen, und daß ſo viele unbe- grenzte Wünſche, die ſich jeder erlaubt, nothwendig zu- ſammenſtoßen, ſich durchkreuzen, verirren, in Nichts übergehen, und mit dem koſtbaren Raub unſrer Ruhe endlich verſchwinden müſſen. Aber unſer Erlöſer dachte groß, empfand für alle, lebte gemeinnützig, handelte im- mer edel, that alles aus den erhabenſten Bewegungsgrün- den, betete täglich, betete inbrünſtig, litt manches, und ſchwieg dazu, war munter ohne Leichtſinnigkeit, war hei- lig ohne Rauhigkeit und finſtre Milzſucht, unternahm jede Arbeit mit heiterm frohem Muth, verachtete ſeine Feinde, und reizte ſie doch nicht, ſah hoch über die Spiele der Kinder und der Greiſen weg, hatte immer das Ziel zu dem er laufen ſollte, im Auge, und war noch im Tode ein Denkmal der Frömmigkeit und der Wohlthätigkeit! Wer unter uns gleicht dieſem Muſter? Täglich hörte Er das Wimmern der Elenden, und ward nie verdrüß- lich, E 4
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Frömmigkeit des Erlöſ. Unſre Gleichgült.
Es giebt Menſchen, die immer Lobreden auf die Tugend,
auf die Menſchenfreundſchaft, auf die Vaterlandsliebe
halten, und dabey doch höchſt gewiſſenlos, nachläßig, und
unachtſam in ihrem Amt, in ihrem Hausweſen, in der
Erziehung der Kinder ſind, und ſelber niemals fromm
und tugendhaft handeln. Reichthum und Geburt bla-
ſen manches Herz auf, und verderben es in der zarten
Jugend. Die ſchimmerndſten Ehrenſtellen ſtiften Un-
einigkeiten, die Glückſeligkeiten des Lebens erwecken den
Neid, weil ſie oft nur dazu angewendet werden, andre
zu verkleinern, damit man das Vergnügen des Adlers hat,
die Würmer tief unter ſeiner eignen Größe herumkrie-
chen zu ſehen. Traurig iſt es, daß ſelbſt die Vorzüge
des Verſtandes auch oft Verſchlimmerung des morali-
ſchen Charakters nach ſich ziehen, und daß ſo viele unbe-
grenzte Wünſche, die ſich jeder erlaubt, nothwendig zu-
ſammenſtoßen, ſich durchkreuzen, verirren, in Nichts
übergehen, und mit dem koſtbaren Raub unſrer Ruhe
endlich verſchwinden müſſen. Aber unſer Erlöſer dachte
groß, empfand für alle, lebte gemeinnützig, handelte im-
mer edel, that alles aus den erhabenſten Bewegungsgrün-
den, betete täglich, betete inbrünſtig, litt manches, und
ſchwieg dazu, war munter ohne Leichtſinnigkeit, war hei-
lig ohne Rauhigkeit und finſtre Milzſucht, unternahm
jede Arbeit mit heiterm frohem Muth, verachtete ſeine
Feinde, und reizte ſie doch nicht, ſah hoch über die Spiele
der Kinder und der Greiſen weg, hatte immer das Ziel
zu dem er laufen ſollte, im Auge, und war noch im Tode
ein Denkmal der Frömmigkeit und der Wohlthätigkeit!
Wer unter uns gleicht dieſem Muſter? Täglich hörte
Er das Wimmern der Elenden, und ward nie verdrüß-
lich,
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Zitationshilfe: | Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/77>, abgerufen am 24.06.2024. |