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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Frömmigkeit des Erlös. Unsre Gleichgült.
lich, nie mürrisch -- aber, ach! die Thränen unsrer Brü-
der finden oft bey uns ein hartes Herz. Wir brauchen
viel, um unsere Eitelkeit zu vergnügen. Die Begierde,
in der Stadt zu glänzen, und eigenes oder geborgtes Geld
auf eine Art, die uns vor der belebten Welt Ehre macht,
durchzubringen, dieser armselige Stolz stürzt uns nicht
nur geradezu in offenbare Ungerechtigkeiten, er raubt uns
überdies die Mittel, im Verborgenen Gutes zu thun, wei-
nende Wittwen zu erquicken, Kinder dem Verderben zu
entreissen, und so zu der höchsten Stufe der Menschheit
aufzusteigen. Ganz an Gott gefesselt fürchtete unser
Erlöser
das Laster nicht, wich nie der Bosheit, athmete
auch in der schlechtesten Gesellschaft immer reine Tugend,
und gieng unbeweglich über alle sich aufsträubende Hin-
dernisse weg. Er zeigte es überall, und sagte es frey
heraus, und schämte sich nicht dabey, daß Religion, Ge-
horsam gegen Gott im Menschenleben thätig bewiesen,
der einzige Vorzug des Menschen sey. Daher die Frey-
müthigkeit,
die er in einem ganz ausnehmenden Grad,
hatte, und die man ihm doch, weil er alles mit so bün-
digen, leicht zu fassenden Gründen unterstützte, nicht übel-
nehmen konnte. Ein Pharisäer ladet ihn zum Essen.
Dieser Mann, der an Förmlichkeiten gewohnt war, schüt-
telt den Kopf darüber, daß ein Mann, der sich für einen
Gesandten Gottes ausgiebt, nicht alle die kleinen Pünct-
lichkeiten beobachtet, die seiner Meynung nach das Ei-
gentliche der Religion ausmachten. Aber Jesus, der
diese schädliche Thorheit ohne Mitleiden nicht sehen konn-
te, fängt gleich die Unterredung davon an, und sagt
der ganzen Secte bey dieser Gelegenheit manche bittre
Wahrheiten. (Luc. 11, 37. 38-54.) Auf der Wage der

Religion

Frömmigkeit des Erlöſ. Unſre Gleichgült.
lich, nie mürriſch — aber, ach! die Thränen unſrer Brü-
der finden oft bey uns ein hartes Herz. Wir brauchen
viel, um unſere Eitelkeit zu vergnügen. Die Begierde,
in der Stadt zu glänzen, und eigenes oder geborgtes Geld
auf eine Art, die uns vor der belebten Welt Ehre macht,
durchzubringen, dieſer armſelige Stolz ſtürzt uns nicht
nur geradezu in offenbare Ungerechtigkeiten, er raubt uns
überdies die Mittel, im Verborgenen Gutes zu thun, wei-
nende Wittwen zu erquicken, Kinder dem Verderben zu
entreiſſen, und ſo zu der höchſten Stufe der Menſchheit
aufzuſteigen. Ganz an Gott gefeſſelt fürchtete unſer
Erlöſer
das Laſter nicht, wich nie der Bosheit, athmete
auch in der ſchlechteſten Geſellſchaft immer reine Tugend,
und gieng unbeweglich über alle ſich aufſträubende Hin-
derniſſe weg. Er zeigte es überall, und ſagte es frey
heraus, und ſchämte ſich nicht dabey, daß Religion, Ge-
horſam gegen Gott im Menſchenleben thätig bewieſen,
der einzige Vorzug des Menſchen ſey. Daher die Frey-
müthigkeit,
die er in einem ganz ausnehmenden Grad,
hatte, und die man ihm doch, weil er alles mit ſo bün-
digen, leicht zu faſſenden Gründen unterſtützte, nicht übel-
nehmen konnte. Ein Phariſäer ladet ihn zum Eſſen.
Dieſer Mann, der an Förmlichkeiten gewohnt war, ſchüt-
telt den Kopf darüber, daß ein Mann, der ſich für einen
Geſandten Gottes ausgiebt, nicht alle die kleinen Pünct-
lichkeiten beobachtet, die ſeiner Meynung nach das Ei-
gentliche der Religion ausmachten. Aber Jeſus, der
dieſe ſchädliche Thorheit ohne Mitleiden nicht ſehen konn-
te, fängt gleich die Unterredung davon an, und ſagt
der ganzen Secte bey dieſer Gelegenheit manche bittre
Wahrheiten. (Luc. 11, 37. 38-54.) Auf der Wage der

Religion
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[72/0078] Frömmigkeit des Erlöſ. Unſre Gleichgült. lich, nie mürriſch — aber, ach! die Thränen unſrer Brü- der finden oft bey uns ein hartes Herz. Wir brauchen viel, um unſere Eitelkeit zu vergnügen. Die Begierde, in der Stadt zu glänzen, und eigenes oder geborgtes Geld auf eine Art, die uns vor der belebten Welt Ehre macht, durchzubringen, dieſer armſelige Stolz ſtürzt uns nicht nur geradezu in offenbare Ungerechtigkeiten, er raubt uns überdies die Mittel, im Verborgenen Gutes zu thun, wei- nende Wittwen zu erquicken, Kinder dem Verderben zu entreiſſen, und ſo zu der höchſten Stufe der Menſchheit aufzuſteigen. Ganz an Gott gefeſſelt fürchtete unſer Erlöſer das Laſter nicht, wich nie der Bosheit, athmete auch in der ſchlechteſten Geſellſchaft immer reine Tugend, und gieng unbeweglich über alle ſich aufſträubende Hin- derniſſe weg. Er zeigte es überall, und ſagte es frey heraus, und ſchämte ſich nicht dabey, daß Religion, Ge- horſam gegen Gott im Menſchenleben thätig bewieſen, der einzige Vorzug des Menſchen ſey. Daher die Frey- müthigkeit, die er in einem ganz ausnehmenden Grad, hatte, und die man ihm doch, weil er alles mit ſo bün- digen, leicht zu faſſenden Gründen unterſtützte, nicht übel- nehmen konnte. Ein Phariſäer ladet ihn zum Eſſen. Dieſer Mann, der an Förmlichkeiten gewohnt war, ſchüt- telt den Kopf darüber, daß ein Mann, der ſich für einen Geſandten Gottes ausgiebt, nicht alle die kleinen Pünct- lichkeiten beobachtet, die ſeiner Meynung nach das Ei- gentliche der Religion ausmachten. Aber Jeſus, der dieſe ſchädliche Thorheit ohne Mitleiden nicht ſehen konn- te, fängt gleich die Unterredung davon an, und ſagt der ganzen Secte bey dieſer Gelegenheit manche bittre Wahrheiten. (Luc. 11, 37. 38-54.) Auf der Wage der Religion

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/78>, abgerufen am 24.06.2024.