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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Von der wahren Größe Jesu Christi.
walt. Dann mußten die stürmenden Winde, dann
mußte der wellenwerfende See, dann mußte der bleiche
Tod selber sich vor seinen Füßen niederlegen. Jn seine
Gesellschaft nahm er ohne Unterschied alle Menschen auf.
Er schloß sich nicht in ein großes, und mit Wache umge-
benes Haus ein; es wäre ihm unleidlich gewesen, immer
denselbigen Cirkel von Menschen um sich zu haben. Er
sonderte sich nicht von der übrigen Classe der Menschen
ab, als wenn sein Blut eine andre Farbe, einen andern
Stoff gehabt hätte. Jedermann hatte freyen, offenen
Weg zu ihm, und er sprach gerne mit jedem, der ihm
auf der Landstraße, oder in irgend einem Ort begegnete.
Zu seinem näheren Umgang wählte er ganz gemeine, aber
gute, ehrliche, folgsame Leute; er drängte sich nicht zu den
Höchsten und Gebietenden im Land, weil er wußte, daß
in ihrem Umgang gar oft die Menschenwürde beschimpft,
die Freyheit, die das edelste und natürlichste Gut des
Menschen ist, eingeschränkt, die kostbarste Zeit weggewor-
fen, und Kleinigkeiten in einen hohen Rang gesetzt wer-
den. Er hatte ein Herz, das für die reizvollen Gefühle
der Freundschaft geschaffen war, und suchte sich ausser-
halb der Stadt seinen Lazarus. Bethanien war der
stille glückliche Ort, wo er hatte, was er in der Stadt
nicht finden konnte, wohin er, wenn ihn sein Amt nach
Jerusalem rief, und ihn das wilde Getümmel der Men-
schenmenge, wovon ein Theil wollüstig und müßig, und
der andre rastlos und hitzig war, um durch Handlung groß
und reich zu werden, ermüdet hatte, sobald der Abend den
Thau brachte, mit geheimer unaussprechlicher Wollust
zurückkam, unter den angenehmsten und vertrautesten
Gesprächen zwischen den mit Segen der Natur bedeckten

Feldern,
D 4

Von der wahren Größe Jeſu Chriſti.
walt. Dann mußten die ſtürmenden Winde, dann
mußte der wellenwerfende See, dann mußte der bleiche
Tod ſelber ſich vor ſeinen Füßen niederlegen. Jn ſeine
Geſellſchaft nahm er ohne Unterſchied alle Menſchen auf.
Er ſchloß ſich nicht in ein großes, und mit Wache umge-
benes Haus ein; es wäre ihm unleidlich geweſen, immer
denſelbigen Cirkel von Menſchen um ſich zu haben. Er
ſonderte ſich nicht von der übrigen Claſſe der Menſchen
ab, als wenn ſein Blut eine andre Farbe, einen andern
Stoff gehabt hätte. Jedermann hatte freyen, offenen
Weg zu ihm, und er ſprach gerne mit jedem, der ihm
auf der Landſtraße, oder in irgend einem Ort begegnete.
Zu ſeinem näheren Umgang wählte er ganz gemeine, aber
gute, ehrliche, folgſame Leute; er drängte ſich nicht zu den
Höchſten und Gebietenden im Land, weil er wußte, daß
in ihrem Umgang gar oft die Menſchenwürde beſchimpft,
die Freyheit, die das edelſte und natürlichſte Gut des
Menſchen iſt, eingeſchränkt, die koſtbarſte Zeit weggewor-
fen, und Kleinigkeiten in einen hohen Rang geſetzt wer-
den. Er hatte ein Herz, das für die reizvollen Gefühle
der Freundſchaft geſchaffen war, und ſuchte ſich auſſer-
halb der Stadt ſeinen Lazarus. Bethanien war der
ſtille glückliche Ort, wo er hatte, was er in der Stadt
nicht finden konnte, wohin er, wenn ihn ſein Amt nach
Jeruſalem rief, und ihn das wilde Getümmel der Men-
ſchenmenge, wovon ein Theil wollüſtig und müßig, und
der andre raſtlos und hitzig war, um durch Handlung groß
und reich zu werden, ermüdet hatte, ſobald der Abend den
Thau brachte, mit geheimer unausſprechlicher Wolluſt
zurückkam, unter den angenehmſten und vertrauteſten
Geſprächen zwiſchen den mit Segen der Natur bedeckten

Feldern,
D 4
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[55/0061] Von der wahren Größe Jeſu Chriſti. walt. Dann mußten die ſtürmenden Winde, dann mußte der wellenwerfende See, dann mußte der bleiche Tod ſelber ſich vor ſeinen Füßen niederlegen. Jn ſeine Geſellſchaft nahm er ohne Unterſchied alle Menſchen auf. Er ſchloß ſich nicht in ein großes, und mit Wache umge- benes Haus ein; es wäre ihm unleidlich geweſen, immer denſelbigen Cirkel von Menſchen um ſich zu haben. Er ſonderte ſich nicht von der übrigen Claſſe der Menſchen ab, als wenn ſein Blut eine andre Farbe, einen andern Stoff gehabt hätte. Jedermann hatte freyen, offenen Weg zu ihm, und er ſprach gerne mit jedem, der ihm auf der Landſtraße, oder in irgend einem Ort begegnete. Zu ſeinem näheren Umgang wählte er ganz gemeine, aber gute, ehrliche, folgſame Leute; er drängte ſich nicht zu den Höchſten und Gebietenden im Land, weil er wußte, daß in ihrem Umgang gar oft die Menſchenwürde beſchimpft, die Freyheit, die das edelſte und natürlichſte Gut des Menſchen iſt, eingeſchränkt, die koſtbarſte Zeit weggewor- fen, und Kleinigkeiten in einen hohen Rang geſetzt wer- den. Er hatte ein Herz, das für die reizvollen Gefühle der Freundſchaft geſchaffen war, und ſuchte ſich auſſer- halb der Stadt ſeinen Lazarus. Bethanien war der ſtille glückliche Ort, wo er hatte, was er in der Stadt nicht finden konnte, wohin er, wenn ihn ſein Amt nach Jeruſalem rief, und ihn das wilde Getümmel der Men- ſchenmenge, wovon ein Theil wollüſtig und müßig, und der andre raſtlos und hitzig war, um durch Handlung groß und reich zu werden, ermüdet hatte, ſobald der Abend den Thau brachte, mit geheimer unausſprechlicher Wolluſt zurückkam, unter den angenehmſten und vertrauteſten Geſprächen zwiſchen den mit Segen der Natur bedeckten Feldern, D 4

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/61>, abgerufen am 24.11.2024.