des andern Verlust, genug erlangen kann. Der Dich- ter klagt mit Recht über sein verblendetes Geschlecht: "Stets liegt uns mehr daran, uns glänzend, als glück- &q;lich zu machen."
Erhebt euch also über die gewöhnliche Art zu urthei- len. Sehet mehr auf die Gesinnung, mit der Jesus in der Welt herumgieng, als auf die Pracht, mit der er hätte erscheinen sollen. Sehet mehr auf sein Betragen gegen Gott, als auf den Spott, der ihn begleitete. Unser Erlöser war zwar im niedrigen Stande, aber in seinem ganzen Betragen war nichts Verächtliches. Er hatte keine weiche Lebensart, weil er meistens auf dem Land lebte, wo man damals der Natur mehr, als jezt, folgte. Er kleidete sich als ein Lehrer; aber jedermann sah, daß er dadurch nicht glänzen, andre neben sich nicht beschä- men, nicht verdunkeln wollte. Er genoß die einfachsten, die natürlichsten Speisen, die Land und Jahrszeit brach- ten; aber er floh nicht nur jede Schwelgerey und Un- mäßigkeit, er duldete auch die Verschwendung nicht, lebte mäßig und sparsam. Wenn man gar zu klein von ihm dachte, wenn man bey den vielen falschen Urtheilen, die er immer über sich ergehen lassen mußte, beynahe nicht wußte, was man von ihm denken sollte; wenn seine höchste Klugheit glaubte, daß die Bestätigung seiner Würde ein Wunder fordere, und daß alle Umstände dazu günstig seyen; wenn selber seine Jünger irre und ungewiß wur- den; wenn durch seine Langmuth und Sanftmuth der Frevel der Lästrer gereizt, und die Zunge seiner Feinde ganz unbändig wurde: dann setzte er sich schnell auf den Thron der Natur, und herrschte mit unumschränkter Ge-
walt.
Von der wahren Größe Jeſu Chriſti.
des andern Verluſt, genug erlangen kann. Der Dich- ter klagt mit Recht über ſein verblendetes Geſchlecht: „Stets liegt uns mehr daran, uns glänzend, als glück- &q;lich zu machen.“
Erhebt euch alſo über die gewöhnliche Art zu urthei- len. Sehet mehr auf die Geſinnung, mit der Jeſus in der Welt herumgieng, als auf die Pracht, mit der er hätte erſcheinen ſollen. Sehet mehr auf ſein Betragen gegen Gott, als auf den Spott, der ihn begleitete. Unſer Erlöſer war zwar im niedrigen Stande, aber in ſeinem ganzen Betragen war nichts Verächtliches. Er hatte keine weiche Lebensart, weil er meiſtens auf dem Land lebte, wo man damals der Natur mehr, als jezt, folgte. Er kleidete ſich als ein Lehrer; aber jedermann ſah, daß er dadurch nicht glänzen, andre neben ſich nicht beſchä- men, nicht verdunkeln wollte. Er genoß die einfachſten, die natürlichſten Speiſen, die Land und Jahrszeit brach- ten; aber er floh nicht nur jede Schwelgerey und Un- mäßigkeit, er duldete auch die Verſchwendung nicht, lebte mäßig und ſparſam. Wenn man gar zu klein von ihm dachte, wenn man bey den vielen falſchen Urtheilen, die er immer über ſich ergehen laſſen mußte, beynahe nicht wußte, was man von ihm denken ſollte; wenn ſeine höchſte Klugheit glaubte, daß die Beſtätigung ſeiner Würde ein Wunder fordere, und daß alle Umſtände dazu günſtig ſeyen; wenn ſelber ſeine Jünger irre und ungewiß wur- den; wenn durch ſeine Langmuth und Sanftmuth der Frevel der Läſtrer gereizt, und die Zunge ſeiner Feinde ganz unbändig wurde: dann ſetzte er ſich ſchnell auf den Thron der Natur, und herrſchte mit unumſchränkter Ge-
walt.
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[54/0060]
Von der wahren Größe Jeſu Chriſti.
des andern Verluſt, genug erlangen kann. Der Dich-
ter klagt mit Recht über ſein verblendetes Geſchlecht:
„Stets liegt uns mehr daran, uns glänzend, als glück-
&q;lich zu machen.“
Erhebt euch alſo über die gewöhnliche Art zu urthei-
len. Sehet mehr auf die Geſinnung, mit der Jeſus
in der Welt herumgieng, als auf die Pracht, mit der er
hätte erſcheinen ſollen. Sehet mehr auf ſein Betragen
gegen Gott, als auf den Spott, der ihn begleitete. Unſer
Erlöſer war zwar im niedrigen Stande, aber in ſeinem
ganzen Betragen war nichts Verächtliches. Er hatte
keine weiche Lebensart, weil er meiſtens auf dem Land
lebte, wo man damals der Natur mehr, als jezt, folgte.
Er kleidete ſich als ein Lehrer; aber jedermann ſah, daß
er dadurch nicht glänzen, andre neben ſich nicht beſchä-
men, nicht verdunkeln wollte. Er genoß die einfachſten,
die natürlichſten Speiſen, die Land und Jahrszeit brach-
ten; aber er floh nicht nur jede Schwelgerey und Un-
mäßigkeit, er duldete auch die Verſchwendung nicht,
lebte mäßig und ſparſam. Wenn man gar zu klein von
ihm dachte, wenn man bey den vielen falſchen Urtheilen,
die er immer über ſich ergehen laſſen mußte, beynahe nicht
wußte, was man von ihm denken ſollte; wenn ſeine höchſte
Klugheit glaubte, daß die Beſtätigung ſeiner Würde ein
Wunder fordere, und daß alle Umſtände dazu günſtig
ſeyen; wenn ſelber ſeine Jünger irre und ungewiß wur-
den; wenn durch ſeine Langmuth und Sanftmuth der
Frevel der Läſtrer gereizt, und die Zunge ſeiner Feinde
ganz unbändig wurde: dann ſetzte er ſich ſchnell auf den
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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/60>, abgerufen am 24.06.2024.
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