Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.Gesinnung Jesu Christi am Ende s. Lebens. es dann vielen so schwer, sich von ihrer eingebildetenGröße herabzulassen, und die Brüder, die durch ihre Bestimmung zu den niedrigsten Geschäften dieses Lebens von der Ausbildung des Geistes sind zurückgehalten worden, auch als Menschen zu behandeln? -- So wie der Tag zum Ende gieng, ließ unser Erlöser Erde und Menschen zurück, dachte ernstlich an seine große Angele- genheiten, und betete zu Gott. Warum lernen wir dann diese weise Verbindung der verschiedenen Pflichten nicht von ihm? Warum ergötzen wir uns oft so, daß wir nicht mehr mit dem tiefen Gefühl der Größe Got- tes, und unsers unendlich weiten Abstandes von ihm, und mit dem Bewußtseyn unsrer Unwürdigkeit vor ihm erscheinen können? -- Das allerwichtigste Geschäft lag auf unserm Erlöser, als er nach Jerusalem gieng, und doch hält ihn ein Blinder, ein Bettler in seinem Lauf auf, und er spricht mit ihm. Wie oft gehen wir da vorbey, wo auch ein wahrer würdiger Armer seufzt! Er fleht um eine geringe Gabe, aber unser Geschäft soll uns entschuldigen? Wir können uns jezt nicht aufhal- ten, und so ersticken wir nach und nach die besten Anla- gen zur Empfindung im Herzen. Was werden wir dann dem Freund, dem Pfleger und Vormund aller Menschen antworten, wenn er uns einst sein eigenes Bey- spiel vorhalten wird? Tretet dorthin, wo die Gebeine der Christen aufbewahrt werden. Vielleicht predigen euch die Trümmer von so vielen Menschen, die ihr ge- kannt und geliebt hat, vielleicht predigen euch die schwarzen Gräber, die nie gefüllt werden könuen, stär- ker, als das alles. Wer weiß, wie lang ihm das Herz noch
Geſinnung Jeſu Chriſti am Ende ſ. Lebens. es dann vielen ſo ſchwer, ſich von ihrer eingebildetenGröße herabzulaſſen, und die Brüder, die durch ihre Beſtimmung zu den niedrigſten Geſchäften dieſes Lebens von der Ausbildung des Geiſtes ſind zurückgehalten worden, auch als Menſchen zu behandeln? — So wie der Tag zum Ende gieng, ließ unſer Erlöſer Erde und Menſchen zurück, dachte ernſtlich an ſeine große Angele- genheiten, und betete zu Gott. Warum lernen wir dann dieſe weiſe Verbindung der verſchiedenen Pflichten nicht von ihm? Warum ergötzen wir uns oft ſo, daß wir nicht mehr mit dem tiefen Gefühl der Größe Got- tes, und unſers unendlich weiten Abſtandes von ihm, und mit dem Bewußtſeyn unſrer Unwürdigkeit vor ihm erſcheinen können? — Das allerwichtigſte Geſchäft lag auf unſerm Erlöſer, als er nach Jeruſalem gieng, und doch hält ihn ein Blinder, ein Bettler in ſeinem Lauf auf, und er ſpricht mit ihm. Wie oft gehen wir da vorbey, wo auch ein wahrer würdiger Armer ſeufzt! Er fleht um eine geringe Gabe, aber unſer Geſchäft ſoll uns entſchuldigen? Wir können uns jezt nicht aufhal- ten, und ſo erſticken wir nach und nach die beſten Anla- gen zur Empfindung im Herzen. Was werden wir dann dem Freund, dem Pfleger und Vormund aller Menſchen antworten, wenn er uns einſt ſein eigenes Bey- ſpiel vorhalten wird? Tretet dorthin, wo die Gebeine der Chriſten aufbewahrt werden. Vielleicht predigen euch die Trümmer von ſo vielen Menſchen, die ihr ge- kannt und geliebt hat, vielleicht predigen euch die ſchwarzen Gräber, die nie gefüllt werden könuen, ſtär- ker, als das alles. Wer weiß, wie lang ihm das Herz noch
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Geſinnung Jeſu Chriſti am Ende ſ. Lebens.
es dann vielen ſo ſchwer, ſich von ihrer eingebildeten
Größe herabzulaſſen, und die Brüder, die durch ihre
Beſtimmung zu den niedrigſten Geſchäften dieſes Lebens
von der Ausbildung des Geiſtes ſind zurückgehalten
worden, auch als Menſchen zu behandeln? — So wie
der Tag zum Ende gieng, ließ unſer Erlöſer Erde und
Menſchen zurück, dachte ernſtlich an ſeine große Angele-
genheiten, und betete zu Gott. Warum lernen wir
dann dieſe weiſe Verbindung der verſchiedenen Pflichten
nicht von ihm? Warum ergötzen wir uns oft ſo, daß
wir nicht mehr mit dem tiefen Gefühl der Größe Got-
tes, und unſers unendlich weiten Abſtandes von ihm,
und mit dem Bewußtſeyn unſrer Unwürdigkeit vor ihm
erſcheinen können? — Das allerwichtigſte Geſchäft
lag auf unſerm Erlöſer, als er nach Jeruſalem gieng,
und doch hält ihn ein Blinder, ein Bettler in ſeinem
Lauf auf, und er ſpricht mit ihm. Wie oft gehen wir
da vorbey, wo auch ein wahrer würdiger Armer ſeufzt!
Er fleht um eine geringe Gabe, aber unſer Geſchäft ſoll
uns entſchuldigen? Wir können uns jezt nicht aufhal-
ten, und ſo erſticken wir nach und nach die beſten Anla-
gen zur Empfindung im Herzen. Was werden wir
dann dem Freund, dem Pfleger und Vormund aller
Menſchen antworten, wenn er uns einſt ſein eigenes Bey-
ſpiel vorhalten wird? Tretet dorthin, wo die Gebeine
der Chriſten aufbewahrt werden. Vielleicht predigen
euch die Trümmer von ſo vielen Menſchen, die ihr ge-
kannt und geliebt hat, vielleicht predigen euch die
ſchwarzen Gräber, die nie gefüllt werden könuen, ſtär-
ker, als das alles. Wer weiß, wie lang ihm das Herz
noch
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Zitationshilfe: | Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/302>, abgerufen am 23.06.2024. |