Herzen tragen, wie ein Wurm an der Rose nagt, bis sie verwelkt ist. Wie werden sie dann vor dem Allwissen- den, der die Tiefe ihres Verderbens kennt, wie werden sie vor dem Heiligsten, der unsre Gedanken schon von Ferne sieht, bestehen können!
Man scheut sich nicht zu sagen: Gott lasse sich nicht zu uns herab. Als wenn er sich in der großen lauttönenden Natur unbezeugt gelassen hätte! Als wenn wir ihn nicht überall greifen und fühlen könnten! (Ap. Gesch. 17, 27.) Als wenn uns nicht gesagt wäre, was gut ist, und was der Herr von uns fordert! (Mich. 6, 8.) Als wenn wir uns nicht zu ihm hinauf- schwingen könnten durch die Triebe zum Wahren und Guten! Als wenn nicht unsre verstellte Demuth doch Stolz wäre in den Augen Gottes! Der Leichtsinn ruft uns immer mit frecher Zunge entgegen: Es sey doch noch keiner wieder gekommen, der uns auch gesagt hätte, wie es wirklich in der andern Welt zugehe! Ge- rade, als wenn deswegen die ganze Geschichte des Erlö- sers eine Fabel, und alle seine Versicherungen ungewiß wären! Gerade, als wenn Er uns nicht selber gewarnt hätte, daß wir uns nicht mit dieser nichtigen Erwartung täuschen sollen. (Luc. 16, 19 - 31.) Gerade, als wenn nicht sein scharfes Auge in den Grund der menschlichen Seele gesehen, und einen noch größern Unglauben, als die gewisse Folge, die die Erscheinung eines Todten haben würde, geweissagt hätte! Man tröster sich immer damit, daß nicht alle Lehren der Religion ein gleiches Ge- wicht haben: aber folgt dann daraus, daß unser gan- zer Glaube unerweislich, und alle Wissenschaft in göttli-
chen
Frömmigkeit des Erlöſers.
Herzen tragen, wie ein Wurm an der Roſe nagt, bis ſie verwelkt iſt. Wie werden ſie dann vor dem Allwiſſen- den, der die Tiefe ihres Verderbens kennt, wie werden ſie vor dem Heiligſten, der unſre Gedanken ſchon von Ferne ſieht, beſtehen können!
Man ſcheut ſich nicht zu ſagen: Gott laſſe ſich nicht zu uns herab. Als wenn er ſich in der großen lauttönenden Natur unbezeugt gelaſſen hätte! Als wenn wir ihn nicht überall greifen und fühlen könnten! (Ap. Geſch. 17, 27.) Als wenn uns nicht geſagt wäre, was gut iſt, und was der Herr von uns fordert! (Mich. 6, 8.) Als wenn wir uns nicht zu ihm hinauf- ſchwingen könnten durch die Triebe zum Wahren und Guten! Als wenn nicht unſre verſtellte Demuth doch Stolz wäre in den Augen Gottes! Der Leichtſinn ruft uns immer mit frecher Zunge entgegen: Es ſey doch noch keiner wieder gekommen, der uns auch geſagt hätte, wie es wirklich in der andern Welt zugehe! Ge- rade, als wenn deswegen die ganze Geſchichte des Erlö- ſers eine Fabel, und alle ſeine Verſicherungen ungewiß wären! Gerade, als wenn Er uns nicht ſelber gewarnt hätte, daß wir uns nicht mit dieſer nichtigen Erwartung täuſchen ſollen. (Luc. 16, 19 – 31.) Gerade, als wenn nicht ſein ſcharfes Auge in den Grund der menſchlichen Seele geſehen, und einen noch größern Unglauben, als die gewiſſe Folge, die die Erſcheinung eines Todten haben würde, geweiſſagt hätte! Man tröſter ſich immer damit, daß nicht alle Lehren der Religion ein gleiches Ge- wicht haben: aber folgt dann daraus, daß unſer gan- zer Glaube unerweislich, und alle Wiſſenſchaft in göttli-
chen
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Frömmigkeit des Erlöſers.
Herzen tragen, wie ein Wurm an der Roſe nagt, bis ſie
verwelkt iſt. Wie werden ſie dann vor dem Allwiſſen-
den, der die Tiefe ihres Verderbens kennt, wie werden
ſie vor dem Heiligſten, der unſre Gedanken ſchon von
Ferne ſieht, beſtehen können!
Man ſcheut ſich nicht zu ſagen: Gott laſſe ſich
nicht zu uns herab. Als wenn er ſich in der großen
lauttönenden Natur unbezeugt gelaſſen hätte! Als wenn
wir ihn nicht überall greifen und fühlen könnten! (Ap.
Geſch. 17, 27.) Als wenn uns nicht geſagt wäre, was
gut iſt, und was der Herr von uns fordert!
(Mich. 6, 8.) Als wenn wir uns nicht zu ihm hinauf-
ſchwingen könnten durch die Triebe zum Wahren und
Guten! Als wenn nicht unſre verſtellte Demuth doch
Stolz wäre in den Augen Gottes! Der Leichtſinn ruft
uns immer mit frecher Zunge entgegen: Es ſey doch
noch keiner wieder gekommen, der uns auch geſagt
hätte, wie es wirklich in der andern Welt zugehe! Ge-
rade, als wenn deswegen die ganze Geſchichte des Erlö-
ſers eine Fabel, und alle ſeine Verſicherungen ungewiß
wären! Gerade, als wenn Er uns nicht ſelber gewarnt
hätte, daß wir uns nicht mit dieſer nichtigen Erwartung
täuſchen ſollen. (Luc. 16, 19 – 31.) Gerade, als wenn nicht
ſein ſcharfes Auge in den Grund der menſchlichen Seele
geſehen, und einen noch größern Unglauben, als die
gewiſſe Folge, die die Erſcheinung eines Todten haben
würde, geweiſſagt hätte! Man tröſter ſich immer damit,
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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/110>, abgerufen am 24.06.2024.
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