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Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785.

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Vorurtheile in der Religion.
chen Dingen ungewiß sey? Man streitet dafür, daß
man auch den Jrrenden lieben müsse, und man hat Recht,
das ist die Sprache des Erlösers -- aber wollen wir
dann auch den Jrrthum selber in Schutz nehmen, in-
dem wir dem fehlenden Bruder alle Rechte der Mensch-
heit, und die heiligen Gerechtsame des Gewissens, das
ausser Gott keinen Richter erkennt, angedeihen lassen?
Man hat etwas davon gehört, daß man einige Erzäh-
lungen in der Bibel von der schiefen Seite ansehen, und
mit allerley Gründen angreifen könne. Sie hat das
mit allen Büchern der ältesten und der neusten Zeit ge-
mein: mit einem mäßigen Vorrath von Witz und schein-
barer Gelehrsamkeit kann man alles in ein falsches Licht
stellen, die kleinen Umstände verrücken, die Ordnung
verändern, Personen lächerlich machen, die schönsten
Handlungen erniedrigen, über alte, ausländische von
uns ganz entfernte Sitten spotten, am Geschichtschreiber
Blößen sehen, wo er für vernünftige und billige Leser
schrieb; aber, weil eine große Zunft von seichten Köpfen
eben diese Meisterstücke an der Bibel beweisen, und an
der theuren Religion zum Ritter werden, mit ihr um-
gehen will, als wenn sie ein Abentheuer wäre, das man
bestehen müßte, oder eins von den verjährten Vorurthei-
len, das man mit der Wurzel ausrotten müsse, wollen
wir deswegen die Scheidewand zwischen Wahrheit und
Erdichtung ganz niederreissen? Man trotzt darauf, daß
die menschliche Vernunft in unsern Tagen weiter
in das Reich der Wahrheit eingedrungen,
und
manche schöne Entdeckung in der Natur, und am Ge-
wölbe des Himmels gemacht habe. Aber ist es dann
weise, wenn wir nun alles von dieser dämmernden Ver-

nunft
G 5

Vorurtheile in der Religion.
chen Dingen ungewiß ſey? Man ſtreitet dafür, daß
man auch den Jrrenden lieben müſſe, und man hat Recht,
das iſt die Sprache des Erlöſers — aber wollen wir
dann auch den Jrrthum ſelber in Schutz nehmen, in-
dem wir dem fehlenden Bruder alle Rechte der Menſch-
heit, und die heiligen Gerechtſame des Gewiſſens, das
auſſer Gott keinen Richter erkennt, angedeihen laſſen?
Man hat etwas davon gehört, daß man einige Erzäh-
lungen in der Bibel von der ſchiefen Seite anſehen, und
mit allerley Gründen angreifen könne. Sie hat das
mit allen Büchern der älteſten und der neuſten Zeit ge-
mein: mit einem mäßigen Vorrath von Witz und ſchein-
barer Gelehrſamkeit kann man alles in ein falſches Licht
ſtellen, die kleinen Umſtände verrücken, die Ordnung
verändern, Perſonen lächerlich machen, die ſchönſten
Handlungen erniedrigen, über alte, ausländiſche von
uns ganz entfernte Sitten ſpotten, am Geſchichtſchreiber
Blößen ſehen, wo er für vernünftige und billige Leſer
ſchrieb; aber, weil eine große Zunft von ſeichten Köpfen
eben dieſe Meiſterſtücke an der Bibel beweiſen, und an
der theuren Religion zum Ritter werden, mit ihr um-
gehen will, als wenn ſie ein Abentheuer wäre, das man
beſtehen müßte, oder eins von den verjährten Vorurthei-
len, das man mit der Wurzel ausrotten müſſe, wollen
wir deswegen die Scheidewand zwiſchen Wahrheit und
Erdichtung ganz niederreiſſen? Man trotzt darauf, daß
die menſchliche Vernunft in unſern Tagen weiter
in das Reich der Wahrheit eingedrungen,
und
manche ſchöne Entdeckung in der Natur, und am Ge-
wölbe des Himmels gemacht habe. Aber iſt es dann
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nunft
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[105/0111] Vorurtheile in der Religion. chen Dingen ungewiß ſey? Man ſtreitet dafür, daß man auch den Jrrenden lieben müſſe, und man hat Recht, das iſt die Sprache des Erlöſers — aber wollen wir dann auch den Jrrthum ſelber in Schutz nehmen, in- dem wir dem fehlenden Bruder alle Rechte der Menſch- heit, und die heiligen Gerechtſame des Gewiſſens, das auſſer Gott keinen Richter erkennt, angedeihen laſſen? Man hat etwas davon gehört, daß man einige Erzäh- lungen in der Bibel von der ſchiefen Seite anſehen, und mit allerley Gründen angreifen könne. Sie hat das mit allen Büchern der älteſten und der neuſten Zeit ge- mein: mit einem mäßigen Vorrath von Witz und ſchein- barer Gelehrſamkeit kann man alles in ein falſches Licht ſtellen, die kleinen Umſtände verrücken, die Ordnung verändern, Perſonen lächerlich machen, die ſchönſten Handlungen erniedrigen, über alte, ausländiſche von uns ganz entfernte Sitten ſpotten, am Geſchichtſchreiber Blößen ſehen, wo er für vernünftige und billige Leſer ſchrieb; aber, weil eine große Zunft von ſeichten Köpfen eben dieſe Meiſterſtücke an der Bibel beweiſen, und an der theuren Religion zum Ritter werden, mit ihr um- gehen will, als wenn ſie ein Abentheuer wäre, das man beſtehen müßte, oder eins von den verjährten Vorurthei- len, das man mit der Wurzel ausrotten müſſe, wollen wir deswegen die Scheidewand zwiſchen Wahrheit und Erdichtung ganz niederreiſſen? Man trotzt darauf, daß die menſchliche Vernunft in unſern Tagen weiter in das Reich der Wahrheit eingedrungen, und manche ſchöne Entdeckung in der Natur, und am Ge- wölbe des Himmels gemacht habe. Aber iſt es dann weiſe, wenn wir nun alles von dieſer dämmernden Ver- nunft G 5

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Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Erbauungsbuch zur Beförderung wahrer Gottseligkeit. 3. Aufl. Leipzig, 1785, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_erbauungsbuch_1785/111>, abgerufen am 22.11.2024.