Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

mächtiger, desto tobender, so glaubt man, werde das
Sprudeln und Brausen des hier gleichsam noch jungen
Stroms, und das ist doch nur Betrug der Augen. Nur
bei sehr grossem Wasser merkt man eine beträchtliche Ver-
stärkung des Getöses. An jedem hervorstehenden Zacken
fährt das Wasser schrecklich in die Höhe, bricht sich, und
fährt in sich selber zusammen. Es ist nicht anders, als
wenn das stürzende Wasser an hundert tausend Orten auf-
kochte, und mit grossen Wallungen emporsieden wollte.
Scheint die Sonne in den kochenden Berg, in das Meer
von Schaum, so ist nicht Einer, so ist ein tausendfältiger
Regenbogen um den ganzen Fall, jeder Tropfen stellt ei-
nen Spiegel vor, die Bogen durchkreuzen sich, sie laufen
und schneiden in einander, fliessen zusammen und glänzen
stärker, theilen sich, und werden schöner -- da entsteht
eine Farbenpracht, die keine menschliche Sprache beschrei-
ben kan. Allen guten und empfindenden Menschen wün-
sche ich so einen schönen, und unter dem reinsten Vergnü-
gen zugebrachten Nachmittag. Es schwebte eben ein
grosser Schweizerischer Geier über den Fall, und stieg,
als wenn er dem Werke der Natur eben so erstaunt, wie
ich, zusähe, immer höher und höher. Man kan sich
auch schon laben, wenn man mit dem Gesicht unten am
Becken, oder am Fuß des Falls eine Zeitlang verweilt,
wo das Wasser wieder zu seinem waagerechten Stande
gekommen ist. Denn da schwimmt der liebliche Schaum
noch in unzähligen Streifen, in langen milchweissen Stras-
sen gar angenehm fort, bildet tausend schöne Farben,
mischt sich langsam, verliert sich in die kleinste Tröpfchen,
und geht unmerklich wieder in grünlichtes Wasser über.
Um dem majestätischen Falle so nahe zu seyn, als mög-
lich, trat ich in einen Fischerkahn, und fuhr über den

Strom

maͤchtiger, deſto tobender, ſo glaubt man, werde das
Sprudeln und Brauſen des hier gleichſam noch jungen
Stroms, und das iſt doch nur Betrug der Augen. Nur
bei ſehr groſſem Waſſer merkt man eine betraͤchtliche Ver-
ſtaͤrkung des Getoͤſes. An jedem hervorſtehenden Zacken
faͤhrt das Waſſer ſchrecklich in die Hoͤhe, bricht ſich, und
faͤhrt in ſich ſelber zuſammen. Es iſt nicht anders, als
wenn das ſtuͤrzende Waſſer an hundert tauſend Orten auf-
kochte, und mit groſſen Wallungen emporſieden wollte.
Scheint die Sonne in den kochenden Berg, in das Meer
von Schaum, ſo iſt nicht Einer, ſo iſt ein tauſendfaͤltiger
Regenbogen um den ganzen Fall, jeder Tropfen ſtellt ei-
nen Spiegel vor, die Bogen durchkreuzen ſich, ſie laufen
und ſchneiden in einander, flieſſen zuſammen und glaͤnzen
ſtaͤrker, theilen ſich, und werden ſchoͤner — da entſteht
eine Farbenpracht, die keine menſchliche Sprache beſchrei-
ben kan. Allen guten und empfindenden Menſchen wuͤn-
ſche ich ſo einen ſchoͤnen, und unter dem reinſten Vergnuͤ-
gen zugebrachten Nachmittag. Es ſchwebte eben ein
groſſer Schweizeriſcher Geier uͤber den Fall, und ſtieg,
als wenn er dem Werke der Natur eben ſo erſtaunt, wie
ich, zuſaͤhe, immer hoͤher und hoͤher. Man kan ſich
auch ſchon laben, wenn man mit dem Geſicht unten am
Becken, oder am Fuß des Falls eine Zeitlang verweilt,
wo das Waſſer wieder zu ſeinem waagerechten Stande
gekommen iſt. Denn da ſchwimmt der liebliche Schaum
noch in unzaͤhligen Streifen, in langen milchweiſſen Straſ-
ſen gar angenehm fort, bildet tauſend ſchoͤne Farben,
miſcht ſich langſam, verliert ſich in die kleinſte Troͤpfchen,
und geht unmerklich wieder in gruͤnlichtes Waſſer uͤber.
Um dem majeſtaͤtiſchen Falle ſo nahe zu ſeyn, als moͤg-
lich, trat ich in einen Fiſcherkahn, und fuhr uͤber den

Strom
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0330" n="292"/>
ma&#x0364;chtiger, de&#x017F;to tobender, &#x017F;o glaubt man, werde das<lb/>
Sprudeln und Brau&#x017F;en des hier gleich&#x017F;am noch jungen<lb/>
Stroms, und das i&#x017F;t doch nur Betrug der Augen. Nur<lb/>
bei &#x017F;ehr gro&#x017F;&#x017F;em Wa&#x017F;&#x017F;er merkt man eine betra&#x0364;chtliche Ver-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rkung des Geto&#x0364;&#x017F;es. An jedem hervor&#x017F;tehenden Zacken<lb/>
fa&#x0364;hrt das Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chrecklich in die Ho&#x0364;he, bricht &#x017F;ich, und<lb/>
fa&#x0364;hrt in &#x017F;ich &#x017F;elber zu&#x017F;ammen. Es i&#x017F;t nicht anders, als<lb/>
wenn das &#x017F;tu&#x0364;rzende Wa&#x017F;&#x017F;er an hundert tau&#x017F;end Orten auf-<lb/>
kochte, und mit gro&#x017F;&#x017F;en Wallungen empor&#x017F;ieden wollte.<lb/>
Scheint die Sonne in den kochenden Berg, in das Meer<lb/>
von Schaum, &#x017F;o i&#x017F;t nicht Einer, &#x017F;o i&#x017F;t ein tau&#x017F;endfa&#x0364;ltiger<lb/>
Regenbogen um den ganzen Fall, jeder Tropfen &#x017F;tellt ei-<lb/>
nen Spiegel vor, die Bogen durchkreuzen &#x017F;ich, &#x017F;ie laufen<lb/>
und &#x017F;chneiden in einander, flie&#x017F;&#x017F;en zu&#x017F;ammen und gla&#x0364;nzen<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rker, theilen &#x017F;ich, und werden &#x017F;cho&#x0364;ner &#x2014; da ent&#x017F;teht<lb/>
eine Farbenpracht, die keine men&#x017F;chliche Sprache be&#x017F;chrei-<lb/>
ben kan. Allen guten und empfindenden Men&#x017F;chen wu&#x0364;n-<lb/>
&#x017F;che ich &#x017F;o einen &#x017F;cho&#x0364;nen, und unter dem rein&#x017F;ten Vergnu&#x0364;-<lb/>
gen zugebrachten Nachmittag. Es &#x017F;chwebte eben ein<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;er Schweizeri&#x017F;cher Geier u&#x0364;ber den Fall, und &#x017F;tieg,<lb/>
als wenn er dem Werke der Natur eben &#x017F;o er&#x017F;taunt, wie<lb/>
ich, zu&#x017F;a&#x0364;he, immer ho&#x0364;her und ho&#x0364;her. Man kan &#x017F;ich<lb/>
auch &#x017F;chon laben, wenn man mit dem Ge&#x017F;icht unten am<lb/>
Becken, oder am Fuß des Falls eine Zeitlang verweilt,<lb/>
wo das Wa&#x017F;&#x017F;er wieder zu &#x017F;einem waagerechten Stande<lb/>
gekommen i&#x017F;t. Denn da &#x017F;chwimmt der liebliche Schaum<lb/>
noch in unza&#x0364;hligen Streifen, in langen milchwei&#x017F;&#x017F;en Stra&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en gar angenehm fort, bildet tau&#x017F;end &#x017F;cho&#x0364;ne Farben,<lb/>
mi&#x017F;cht &#x017F;ich lang&#x017F;am, verliert &#x017F;ich in die klein&#x017F;te Tro&#x0364;pfchen,<lb/>
und geht unmerklich wieder in gru&#x0364;nlichtes Wa&#x017F;&#x017F;er u&#x0364;ber.<lb/>
Um dem maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;chen Falle &#x017F;o nahe zu &#x017F;eyn, als mo&#x0364;g-<lb/>
lich, trat ich in einen Fi&#x017F;cherkahn, und fuhr u&#x0364;ber den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Strom</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[292/0330] maͤchtiger, deſto tobender, ſo glaubt man, werde das Sprudeln und Brauſen des hier gleichſam noch jungen Stroms, und das iſt doch nur Betrug der Augen. Nur bei ſehr groſſem Waſſer merkt man eine betraͤchtliche Ver- ſtaͤrkung des Getoͤſes. An jedem hervorſtehenden Zacken faͤhrt das Waſſer ſchrecklich in die Hoͤhe, bricht ſich, und faͤhrt in ſich ſelber zuſammen. Es iſt nicht anders, als wenn das ſtuͤrzende Waſſer an hundert tauſend Orten auf- kochte, und mit groſſen Wallungen emporſieden wollte. Scheint die Sonne in den kochenden Berg, in das Meer von Schaum, ſo iſt nicht Einer, ſo iſt ein tauſendfaͤltiger Regenbogen um den ganzen Fall, jeder Tropfen ſtellt ei- nen Spiegel vor, die Bogen durchkreuzen ſich, ſie laufen und ſchneiden in einander, flieſſen zuſammen und glaͤnzen ſtaͤrker, theilen ſich, und werden ſchoͤner — da entſteht eine Farbenpracht, die keine menſchliche Sprache beſchrei- ben kan. Allen guten und empfindenden Menſchen wuͤn- ſche ich ſo einen ſchoͤnen, und unter dem reinſten Vergnuͤ- gen zugebrachten Nachmittag. Es ſchwebte eben ein groſſer Schweizeriſcher Geier uͤber den Fall, und ſtieg, als wenn er dem Werke der Natur eben ſo erſtaunt, wie ich, zuſaͤhe, immer hoͤher und hoͤher. Man kan ſich auch ſchon laben, wenn man mit dem Geſicht unten am Becken, oder am Fuß des Falls eine Zeitlang verweilt, wo das Waſſer wieder zu ſeinem waagerechten Stande gekommen iſt. Denn da ſchwimmt der liebliche Schaum noch in unzaͤhligen Streifen, in langen milchweiſſen Straſ- ſen gar angenehm fort, bildet tauſend ſchoͤne Farben, miſcht ſich langſam, verliert ſich in die kleinſte Troͤpfchen, und geht unmerklich wieder in gruͤnlichtes Waſſer uͤber. Um dem majeſtaͤtiſchen Falle ſo nahe zu ſeyn, als moͤg- lich, trat ich in einen Fiſcherkahn, und fuhr uͤber den Strom

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Erst ein Jahr nach dem Tod Heinrich Sanders wird … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/330
Zitationshilfe: Sander, Heinrich: Beschreibung seiner Reisen durch Frankreich, die Niederlande, Holland, Deutschland und Italien. Bd. 2. Leipzig, 1784, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sander_beschreibung02_1784/330>, abgerufen am 08.05.2024.