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Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875.

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Die Morphologie unter dem Einfluß der
treffliche Bemerkungen publicirt hatte, vollständig vernachlässigte,
ein Mangel, der leider auch jetzt noch nicht hinreichend gewürdigt
wird. Die Beachtung dieser Widersprüche, sowie die Fälle, wo
die Entwicklungsgeschichte den Construktionen der Theorie wider-
spricht, hätten zu der Erkenntniß führen müssen, daß das Princip
der Schimper'schen Lehre, die Annahme einer Spiraltendenz
im Wachsthum der Pflanzen, wenigstens nicht für alle Fälle aus-
reicht und eine tiefere Erwägung mußte zeigen, daß in der
Annahme einer solchen Spiraltendenz überhaupt ein naturwissen-
schaftliches Princip, durch welches die Erscheinungen wirklich
erklärt werden können, ebenso wenig liegt, wie etwa in der
Annahme, daß die Himmelskörper eine Tendenz zur elliptischen
Bewegung besitzen, weil sie sich gewöhnlich in Ellipsen bewegen;
der die Entwicklungsgeschichte zu Grund legende neueste Bearbeiter
der Blattstellungslehre, Hofmeister, kommt daher zu dem
Schluß 1); "die Vorstellung vom schraubenförmigen oder spiraligen
Gang der Entwicklung seitlicher Sprossungen der Pflanzen ist
nicht bloß eine unzweckmäßige Hypothese, sie ist ein Irrthum.
Ihre rückhaltslose Aufgebung ist die erste Bedingung zur Er-
langung eines Einblicks in die nächsten Ursachen der Verschieden-
heiten der Stellungsverhältnisse im Pflanzenreich." Dieses an
sich richtige Urtheil ist jedoch 30 Jahre nach der Entstehung der
Schimper'schen Theorie gefällt; die Geschichte, die einen anderen
Standpunkt einnimmt, nicht nur nach der Richtigkeit einer Theorie
fragt, sondern ihre geschichtliche Bedeutung würdigen muß, ur-
theilt günstiger. Nicht ob die Theorie richtig war, sondern was
sie zum Fortschritt der Wissenschaft beigetragen hat, ist für die
geschichtliche Betrachtung die Hauptsache. Ihre Fruchtbarkeit
aber war eine sehr bedeutende, insoferne durch Schimper's
Theorie die morphologisch so wichtigen Stellungsverhältnisse
der Organe zum ersten Mal ganz in den Vordergrund der
Morphologie gestellt wurden; ja ein großer Theil der Ergebnisse
der Entwicklungsgeschichte trat durch consequente Anwendung oder

1) Allgem. Morph. p. 482.

Die Morphologie unter dem Einfluß der
treffliche Bemerkungen publicirt hatte, vollſtändig vernachläſſigte,
ein Mangel, der leider auch jetzt noch nicht hinreichend gewürdigt
wird. Die Beachtung dieſer Widerſprüche, ſowie die Fälle, wo
die Entwicklungsgeſchichte den Conſtruktionen der Theorie wider-
ſpricht, hätten zu der Erkenntniß führen müſſen, daß das Princip
der Schimper'ſchen Lehre, die Annahme einer Spiraltendenz
im Wachsthum der Pflanzen, wenigſtens nicht für alle Fälle aus-
reicht und eine tiefere Erwägung mußte zeigen, daß in der
Annahme einer ſolchen Spiraltendenz überhaupt ein naturwiſſen-
ſchaftliches Princip, durch welches die Erſcheinungen wirklich
erklärt werden können, ebenſo wenig liegt, wie etwa in der
Annahme, daß die Himmelskörper eine Tendenz zur elliptiſchen
Bewegung beſitzen, weil ſie ſich gewöhnlich in Ellipſen bewegen;
der die Entwicklungsgeſchichte zu Grund legende neueſte Bearbeiter
der Blattſtellungslehre, Hofmeiſter, kommt daher zu dem
Schluß 1); „die Vorſtellung vom ſchraubenförmigen oder ſpiraligen
Gang der Entwicklung ſeitlicher Sproſſungen der Pflanzen iſt
nicht bloß eine unzweckmäßige Hypotheſe, ſie iſt ein Irrthum.
Ihre rückhaltsloſe Aufgebung iſt die erſte Bedingung zur Er-
langung eines Einblicks in die nächſten Urſachen der Verſchieden-
heiten der Stellungsverhältniſſe im Pflanzenreich.“ Dieſes an
ſich richtige Urtheil iſt jedoch 30 Jahre nach der Entſtehung der
Schimper'ſchen Theorie gefällt; die Geſchichte, die einen anderen
Standpunkt einnimmt, nicht nur nach der Richtigkeit einer Theorie
fragt, ſondern ihre geſchichtliche Bedeutung würdigen muß, ur-
theilt günſtiger. Nicht ob die Theorie richtig war, ſondern was
ſie zum Fortſchritt der Wiſſenſchaft beigetragen hat, iſt für die
geſchichtliche Betrachtung die Hauptſache. Ihre Fruchtbarkeit
aber war eine ſehr bedeutende, inſoferne durch Schimper's
Theorie die morphologiſch ſo wichtigen Stellungsverhältniſſe
der Organe zum erſten Mal ganz in den Vordergrund der
Morphologie geſtellt wurden; ja ein großer Theil der Ergebniſſe
der Entwicklungsgeſchichte trat durch conſequente Anwendung oder

1) Allgem. Morph. p. 482.
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[180/0192] Die Morphologie unter dem Einfluß der treffliche Bemerkungen publicirt hatte, vollſtändig vernachläſſigte, ein Mangel, der leider auch jetzt noch nicht hinreichend gewürdigt wird. Die Beachtung dieſer Widerſprüche, ſowie die Fälle, wo die Entwicklungsgeſchichte den Conſtruktionen der Theorie wider- ſpricht, hätten zu der Erkenntniß führen müſſen, daß das Princip der Schimper'ſchen Lehre, die Annahme einer Spiraltendenz im Wachsthum der Pflanzen, wenigſtens nicht für alle Fälle aus- reicht und eine tiefere Erwägung mußte zeigen, daß in der Annahme einer ſolchen Spiraltendenz überhaupt ein naturwiſſen- ſchaftliches Princip, durch welches die Erſcheinungen wirklich erklärt werden können, ebenſo wenig liegt, wie etwa in der Annahme, daß die Himmelskörper eine Tendenz zur elliptiſchen Bewegung beſitzen, weil ſie ſich gewöhnlich in Ellipſen bewegen; der die Entwicklungsgeſchichte zu Grund legende neueſte Bearbeiter der Blattſtellungslehre, Hofmeiſter, kommt daher zu dem Schluß 1); „die Vorſtellung vom ſchraubenförmigen oder ſpiraligen Gang der Entwicklung ſeitlicher Sproſſungen der Pflanzen iſt nicht bloß eine unzweckmäßige Hypotheſe, ſie iſt ein Irrthum. Ihre rückhaltsloſe Aufgebung iſt die erſte Bedingung zur Er- langung eines Einblicks in die nächſten Urſachen der Verſchieden- heiten der Stellungsverhältniſſe im Pflanzenreich.“ Dieſes an ſich richtige Urtheil iſt jedoch 30 Jahre nach der Entſtehung der Schimper'ſchen Theorie gefällt; die Geſchichte, die einen anderen Standpunkt einnimmt, nicht nur nach der Richtigkeit einer Theorie fragt, ſondern ihre geſchichtliche Bedeutung würdigen muß, ur- theilt günſtiger. Nicht ob die Theorie richtig war, ſondern was ſie zum Fortſchritt der Wiſſenſchaft beigetragen hat, iſt für die geſchichtliche Betrachtung die Hauptſache. Ihre Fruchtbarkeit aber war eine ſehr bedeutende, inſoferne durch Schimper's Theorie die morphologiſch ſo wichtigen Stellungsverhältniſſe der Organe zum erſten Mal ganz in den Vordergrund der Morphologie geſtellt wurden; ja ein großer Theil der Ergebniſſe der Entwicklungsgeſchichte trat durch conſequente Anwendung oder 1) Allgem. Morph. p. 482.

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Zitationshilfe: Sachs, Julius: Geschichte der Botanik. München, 1875, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sachs_botanik_1875/192>, abgerufen am 06.05.2024.