bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte er nur wenig in den Kirchenvätern gelesen: aber er hielt oft über einem Glase Wein den Bauern in der Schenke eindring¬ lichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel gesprochen wurden. Rechtshändel und Streitsachen ließ er selten vor die Gerichte kommen, sondern schlichtete das Meiste selbst auf eine verständige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er mit eigenen Händen und war immer der Erste bei der Arbeit; denn er wußte, daß die Menschen eine Ermahnung dazu nicht gerne von Einem annehmen, der selbst müßig geht. Oft er¬ schien er unvermuthet in der Schule, unterbrach den Vortrag des Lehrers und stellte einige Fragen an die Kinder. War er mit dem Examen zufrieden, so holte er Aepfel und Nüsse aus der Tasche seiner groben abgenützten Soutane hervor, be¬ schenkte die Kleinen damit und ließ sie vor der Zeit auf den Spielplatz hinaus. Dort sah er ihnen eine Weile zu und erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er sich selbst anordnend und belebend in's Spiel mischte. So war er bei Alt und Jung beliebt, ein wahrer Vater seiner Gemeinde, die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, sondern als den besten und weisesten Menschen in ihrer Mitte verehrte. -- Wie ganz anders, wie vereinsamt nimmt sich dagegen der Priester in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebil¬ deten ob seiner falschen Stellung bemitleidet, von den soge¬ nannten Aufgeklärten als Heuchler verschrieen und an seinen
bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte er nur wenig in den Kirchenvätern geleſen: aber er hielt oft über einem Glaſe Wein den Bauern in der Schenke eindring¬ lichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel geſprochen wurden. Rechtshändel und Streitſachen ließ er ſelten vor die Gerichte kommen, ſondern ſchlichtete das Meiſte ſelbſt auf eine verſtändige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er mit eigenen Händen und war immer der Erſte bei der Arbeit; denn er wußte, daß die Menſchen eine Ermahnung dazu nicht gerne von Einem annehmen, der ſelbſt müßig geht. Oft er¬ ſchien er unvermuthet in der Schule, unterbrach den Vortrag des Lehrers und ſtellte einige Fragen an die Kinder. War er mit dem Examen zufrieden, ſo holte er Aepfel und Nüſſe aus der Taſche ſeiner groben abgenützten Soutane hervor, be¬ ſchenkte die Kleinen damit und ließ ſie vor der Zeit auf den Spielplatz hinaus. Dort ſah er ihnen eine Weile zu und erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er ſich ſelbſt anordnend und belebend in's Spiel miſchte. So war er bei Alt und Jung beliebt, ein wahrer Vater ſeiner Gemeinde, die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, ſondern als den beſten und weiſeſten Menſchen in ihrer Mitte verehrte. — Wie ganz anders, wie vereinſamt nimmt ſich dagegen der Prieſter in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebil¬ deten ob ſeiner falſchen Stellung bemitleidet, von den ſoge¬ nannten Aufgeklärten als Heuchler verſchrieen und an ſeinen
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bigottem Charakter. Sein Latein reichte nicht weit, auch hatte
er nur wenig in den Kirchenvätern geleſen: aber er hielt oft
über einem Glaſe Wein den Bauern in der Schenke eindring¬
lichere Reden, als vielleicht jemals auf einer Kanzel geſprochen
wurden. Rechtshändel und Streitſachen ließ er ſelten vor
die Gerichte kommen, ſondern ſchlichtete das Meiſte ſelbſt auf
eine verſtändige und gütige Art. Sein Stück Feld bebaute er
mit eigenen Händen und war immer der Erſte bei der Arbeit;
denn er wußte, daß die Menſchen eine Ermahnung dazu nicht
gerne von Einem annehmen, der ſelbſt müßig geht. Oft er¬
ſchien er unvermuthet in der Schule, unterbrach den Vortrag
des Lehrers und ſtellte einige Fragen an die Kinder. War
er mit dem Examen zufrieden, ſo holte er Aepfel und Nüſſe
aus der Taſche ſeiner groben abgenützten Soutane hervor, be¬
ſchenkte die Kleinen damit und ließ ſie vor der Zeit auf den
Spielplatz hinaus. Dort ſah er ihnen eine Weile zu und
erhöhte den Jubel noch manchmal dadurch, daß er ſich ſelbſt
anordnend und belebend in's Spiel miſchte. So war er bei
Alt und Jung beliebt, ein wahrer Vater ſeiner Gemeinde,
die ihn nicht als einen Heiligen über ihr, ſondern als den
beſten und weiſeſten Menſchen in ihrer Mitte verehrte. —
Wie ganz anders, wie vereinſamt nimmt ſich dagegen der
Prieſter in größeren Städten aus. Von den wahrhaft Gebil¬
deten ob ſeiner falſchen Stellung bemitleidet, von den ſoge¬
nannten Aufgeklärten als Heuchler verſchrieen und an ſeinen
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/38>, abgerufen am 24.11.2024.
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