in jeder Menschenbrust wurzelnden Hang zum Bösen! Man sollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht blos weisen, sondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die wahre Aufgabe des Priesters. Wie soll er aber dieser Auf¬ gabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion fast ganz zu einer politischen Formel herabgesunken ist, wo ihre Vertreter in hartnäckiger Abgeschlossenheit einen Staat im Staate bilden. Einen wahrhaft segensreichen Wirkungskreis kann der Priester nur unter patriarchalischen Zuständen gewinnen. So kommt es, daß noch hier und dort auf dem Lande sich der Pfarrer einer kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten nennen kann. Die Verhältnisse der Gemeindemitglieder liegen offen vor ihm da; er hat es nicht erst nöthig, auf eine zwei¬ deutige Art in sie eindringen zu müssen. Er ist in der Lage, nach und nach jeden Einzelnen mit seinen Vorzügen und Fehlern kennen zu lernen. Wie leicht wird es da einem ein¬ sichtsvollen, von wahrer Menschenliebe beseelten Manne -- einem andern würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten, Unheil zu stiften -- durch milde Werkthätigkeit und durch die Macht des Beispieles tröstend, helfend, belehrend und anregend Aufzutreten, und so das Wort Gottes nicht blos zu predigen, sondern auch darzuleben. Mir fällt bei dieser Gelegenheit der ehemalige Pfarrer meines heimathlichen Dorfes ein. Es war ein Mann von energischem, fast strengem, aber keineswegs
in jeder Menſchenbruſt wurzelnden Hang zum Böſen! Man ſollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht blos weiſen, ſondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die wahre Aufgabe des Prieſters. Wie ſoll er aber dieſer Auf¬ gabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion faſt ganz zu einer politiſchen Formel herabgeſunken iſt, wo ihre Vertreter in hartnäckiger Abgeſchloſſenheit einen Staat im Staate bilden. Einen wahrhaft ſegensreichen Wirkungskreis kann der Prieſter nur unter patriarchaliſchen Zuſtänden gewinnen. So kommt es, daß noch hier und dort auf dem Lande ſich der Pfarrer einer kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten nennen kann. Die Verhältniſſe der Gemeindemitglieder liegen offen vor ihm da; er hat es nicht erſt nöthig, auf eine zwei¬ deutige Art in ſie eindringen zu müſſen. Er iſt in der Lage, nach und nach jeden Einzelnen mit ſeinen Vorzügen und Fehlern kennen zu lernen. Wie leicht wird es da einem ein¬ ſichtsvollen, von wahrer Menſchenliebe beſeelten Manne — einem andern würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten, Unheil zu ſtiften — durch milde Werkthätigkeit und durch die Macht des Beiſpieles tröſtend, helfend, belehrend und anregend Aufzutreten, und ſo das Wort Gottes nicht blos zu predigen, ſondern auch darzuleben. Mir fällt bei dieſer Gelegenheit der ehemalige Pfarrer meines heimathlichen Dorfes ein. Es war ein Mann von energiſchem, faſt ſtrengem, aber keineswegs
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[21/0037]
in jeder Menſchenbruſt wurzelnden Hang zum Böſen! Man
ſollte dem Verirrten den Weg zum Guten nicht blos weiſen,
ſondern ihn auch darauf hinführen und ein ziemliches Stück
weit begleiten können. Dies wäre der eigentliche Zweck, die
wahre Aufgabe des Prieſters. Wie ſoll er aber dieſer Auf¬
gabe gerecht werden in einer Zeit, wo die Religion faſt ganz
zu einer politiſchen Formel herabgeſunken iſt, wo ihre Vertreter
in hartnäckiger Abgeſchloſſenheit einen Staat im Staate bilden.
Einen wahrhaft ſegensreichen Wirkungskreis kann der Prieſter
nur unter patriarchaliſchen Zuſtänden gewinnen. So kommt es,
daß noch hier und dort auf dem Lande ſich der Pfarrer einer
kleinen Gemeinde mit gerechtem Stolze einen Seelenhirten
nennen kann. Die Verhältniſſe der Gemeindemitglieder liegen
offen vor ihm da; er hat es nicht erſt nöthig, auf eine zwei¬
deutige Art in ſie eindringen zu müſſen. Er iſt in der Lage,
nach und nach jeden Einzelnen mit ſeinen Vorzügen und
Fehlern kennen zu lernen. Wie leicht wird es da einem ein¬
ſichtsvollen, von wahrer Menſchenliebe beſeelten Manne —
einem andern würde freilich eben dadurch Gelegenheit geboten,
Unheil zu ſtiften — durch milde Werkthätigkeit und durch die
Macht des Beiſpieles tröſtend, helfend, belehrend und anregend
Aufzutreten, und ſo das Wort Gottes nicht blos zu predigen,
ſondern auch darzuleben. Mir fällt bei dieſer Gelegenheit der
ehemalige Pfarrer meines heimathlichen Dorfes ein. Es war
ein Mann von energiſchem, faſt ſtrengem, aber keineswegs
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/37>, abgerufen am 24.11.2024.
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