Auf dem Schreibtische aber, seltsam genug, hatte der Freiherr neben einem Miniaturportrait seiner Gemahlin und dem etwas verblaßten eines helllockigen Kindes den Büsten Schiller's und Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt nach meiner flüchtigen Rundschau das Auge auf ihnen haften ließ, und sagte etwas milder; "Das waren zwei große, gewal¬ tige Geister, und ich bin stets in Gesellschaft ihrer Werke." Dabei wies er auf einen der Bücherschränke, die ihm zunächst standen. "Aber man darf sich von ihren Ideen nicht fortreißen lassen; denn Phantasie und Wirklichkeit sind zweierlei."
Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als sich leise eine Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengestalt, die ich früher vom Fenster aus gesehen, auf der Schwelle erschien. Sie blieb, als sie meiner ansichtig ward, einen Augenblick betroffen stehen, faßte sich jedoch allsogleich und schritt mit würdiger Haltung auf den Freiherrn zu, dessen Antlitz sich plötzlich wundersam erhellte und den Ausdruck tiefster Zärtlichkeit annahm. Ich hatte mich erhoben. "Meine Tochter Raphaela", sagte der Freiherr, indem er mit seiner vertrockneten Hand kosend über das Haar der Eingetretenen strich, das jetzt in seiner reichen, blendenden Fülle fremdartig von den ernsten, fast schroffen Gesichtszügen abstach. Sie sah ganz ihrem Vater ähnlich. Das war dieselbe eckige Stirne, dieselbe weit und scharf ge¬ schwungene Nase; auch ihr Kinn war stark vorgeschoben; nur
Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr neben einem Miniaturportrait ſeiner Gemahlin und dem etwas verblaßten eines helllockigen Kindes den Büſten Schiller's und Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt nach meiner flüchtigen Rundſchau das Auge auf ihnen haften ließ, und ſagte etwas milder; „Das waren zwei große, gewal¬ tige Geiſter, und ich bin ſtets in Geſellſchaft ihrer Werke.“ Dabei wies er auf einen der Bücherſchränke, die ihm zunächſt ſtanden. „Aber man darf ſich von ihren Ideen nicht fortreißen laſſen; denn Phantaſie und Wirklichkeit ſind zweierlei.“
Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengeſtalt, die ich früher vom Fenſter aus geſehen, auf der Schwelle erſchien. Sie blieb, als ſie meiner anſichtig ward, einen Augenblick betroffen ſtehen, faßte ſich jedoch allſogleich und ſchritt mit würdiger Haltung auf den Freiherrn zu, deſſen Antlitz ſich plötzlich wunderſam erhellte und den Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit annahm. Ich hatte mich erhoben. „Meine Tochter Raphaela“, ſagte der Freiherr, indem er mit ſeiner vertrockneten Hand koſend über das Haar der Eingetretenen ſtrich, das jetzt in ſeiner reichen, blendenden Fülle fremdartig von den ernſten, faſt ſchroffen Geſichtszügen abſtach. Sie ſah ganz ihrem Vater ähnlich. Das war dieſelbe eckige Stirne, dieſelbe weit und ſcharf ge¬ ſchwungene Naſe; auch ihr Kinn war ſtark vorgeſchoben; nur
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Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr
neben einem Miniaturportrait ſeiner Gemahlin und dem etwas
verblaßten eines helllockigen Kindes den Büſten Schiller's und
Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt
nach meiner flüchtigen Rundſchau das Auge auf ihnen haften
ließ, und ſagte etwas milder; „Das waren zwei große, gewal¬
tige Geiſter, und ich bin ſtets in Geſellſchaft ihrer Werke.“
Dabei wies er auf einen der Bücherſchränke, die ihm zunächſt
ſtanden. „Aber man darf ſich von ihren Ideen nicht fortreißen
laſſen; denn Phantaſie und Wirklichkeit ſind zweierlei.“
Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine
Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengeſtalt, die ich früher
vom Fenſter aus geſehen, auf der Schwelle erſchien. Sie blieb,
als ſie meiner anſichtig ward, einen Augenblick betroffen ſtehen,
faßte ſich jedoch allſogleich und ſchritt mit würdiger Haltung
auf den Freiherrn zu, deſſen Antlitz ſich plötzlich wunderſam
erhellte und den Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit annahm. Ich
hatte mich erhoben. „Meine Tochter Raphaela“, ſagte der
Freiherr, indem er mit ſeiner vertrockneten Hand koſend über
das Haar der Eingetretenen ſtrich, das jetzt in ſeiner reichen,
blendenden Fülle fremdartig von den ernſten, faſt ſchroffen
Geſichtszügen abſtach. Sie ſah ganz ihrem Vater ähnlich.
Das war dieſelbe eckige Stirne, dieſelbe weit und ſcharf ge¬
ſchwungene Naſe; auch ihr Kinn war ſtark vorgeſchoben; nur
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Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/saar_novellen_1877/272>, abgerufen am 18.07.2024.
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