Saar, Ferdinand von: Novellen aus Österreich. Heidelberg, 1877.Auf dem Schreibtische aber, seltsam genug, hatte der Freiherr Er hatte seine Rede noch nicht beendet, als sich leise eine Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0272" n="256"/> Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr<lb/> neben einem Miniaturportrait ſeiner Gemahlin und dem etwas<lb/> verblaßten eines helllockigen Kindes den Büſten Schiller's und<lb/> Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt<lb/> nach meiner flüchtigen Rundſchau das Auge auf ihnen haften<lb/> ließ, und ſagte etwas milder; „Das waren zwei große, gewal¬<lb/> tige Geiſter, und ich bin ſtets in Geſellſchaft ihrer Werke.“<lb/> Dabei wies er auf einen der Bücherſchränke, die ihm zunächſt<lb/> ſtanden. „Aber man darf ſich von ihren Ideen nicht fortreißen<lb/> laſſen; denn Phantaſie und Wirklichkeit ſind zweierlei.“</p><lb/> <p>Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine<lb/> Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengeſtalt, die ich früher<lb/> vom Fenſter aus geſehen, auf der Schwelle erſchien. Sie blieb,<lb/> als ſie meiner anſichtig ward, einen Augenblick betroffen ſtehen,<lb/> faßte ſich jedoch allſogleich und ſchritt mit würdiger Haltung<lb/> auf den Freiherrn zu, deſſen Antlitz ſich plötzlich wunderſam<lb/> erhellte und den Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit annahm. Ich<lb/> hatte mich erhoben. „Meine Tochter Raphaela“, ſagte der<lb/> Freiherr, indem er mit ſeiner vertrockneten Hand koſend über<lb/> das Haar der Eingetretenen ſtrich, das jetzt in ſeiner reichen,<lb/> blendenden Fülle fremdartig von den ernſten, faſt ſchroffen<lb/> Geſichtszügen abſtach. Sie ſah ganz ihrem Vater ähnlich.<lb/> Das war dieſelbe eckige Stirne, dieſelbe weit und ſcharf ge¬<lb/> ſchwungene Naſe; auch ihr Kinn war ſtark vorgeſchoben; nur<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [256/0272]
Auf dem Schreibtiſche aber, ſeltſam genug, hatte der Freiherr
neben einem Miniaturportrait ſeiner Gemahlin und dem etwas
verblaßten eines helllockigen Kindes den Büſten Schiller's und
Göthe's einen Platz eingeräumt. Er bemerkte es, daß ich jetzt
nach meiner flüchtigen Rundſchau das Auge auf ihnen haften
ließ, und ſagte etwas milder; „Das waren zwei große, gewal¬
tige Geiſter, und ich bin ſtets in Geſellſchaft ihrer Werke.“
Dabei wies er auf einen der Bücherſchränke, die ihm zunächſt
ſtanden. „Aber man darf ſich von ihren Ideen nicht fortreißen
laſſen; denn Phantaſie und Wirklichkeit ſind zweierlei.“
Er hatte ſeine Rede noch nicht beendet, als ſich leiſe eine
Seitenthüre öffnete und jene hohe Mädchengeſtalt, die ich früher
vom Fenſter aus geſehen, auf der Schwelle erſchien. Sie blieb,
als ſie meiner anſichtig ward, einen Augenblick betroffen ſtehen,
faßte ſich jedoch allſogleich und ſchritt mit würdiger Haltung
auf den Freiherrn zu, deſſen Antlitz ſich plötzlich wunderſam
erhellte und den Ausdruck tiefſter Zärtlichkeit annahm. Ich
hatte mich erhoben. „Meine Tochter Raphaela“, ſagte der
Freiherr, indem er mit ſeiner vertrockneten Hand koſend über
das Haar der Eingetretenen ſtrich, das jetzt in ſeiner reichen,
blendenden Fülle fremdartig von den ernſten, faſt ſchroffen
Geſichtszügen abſtach. Sie ſah ganz ihrem Vater ähnlich.
Das war dieſelbe eckige Stirne, dieſelbe weit und ſcharf ge¬
ſchwungene Naſe; auch ihr Kinn war ſtark vorgeſchoben; nur
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