Vasari berührt, ist der Carton mit den ersten Menschen im Paradiese verschollen; eben so die beiden Medusenhäupter; denn jener, den man in der Gallerie der Uffizj zu Florenz zeigt, ist sicher eine Arbeit der Mitte des sechzehnten Jahrhun- dertes. Indeß besitzen wir noch das kleine Halbrund im obe- ren Kreuzgange des Klosters s. Onofrio zu Rom, in welchem die Madonna mit dem Kinde und das Brustbild des damali- gen Vorstehers der klösterlichen Gemeinde; eine Arbeit, welche ihrer größeren Sicherheit ungeachtet, noch an die übrigen Flo- rentiner der späteren Decennien des funfzehnten Jahrhunder- tes und besonders eben an seinen Mitschüler Lorenzo di Credi, erinnert. Und allerdings mußten seine frühere Arbeiten in die Zeit und Schule sehen, von welcher seine Bestrebungen ausge- gangen waren; nicht in jene spätere, welche seine unermüdli- chen Forschungen in der Folge hervorgerufen. Auch die kleine Madonna im Hause Buonvist zu Lucca, welche dort, ich glaube mit vollem Grunde, für eine Jugendarbeit des Lionardo gilt, vereinigt den Aufdruck seines eigenthümlichen Strebens mit einigen Förmlichkeiten und Beschränktheiten der florentinischen Maler der Zeit des Domenico Ghirlandajo; und die köstliche, leider verschollene Carita, ehmals die größte Zierde der chur- fürstlichen Gemäldesammlung zu Cassel, zeugte, bey hoher Aus- bildung der Köpfe und fast bildnerischem Style der Anordnung, doch in der Ausführung des Nackten für die Vermuthung: daß Lionardo eine längere Zeit hindurch gemalt habe, bevor er zu jener Gründlichkeit des Wissens, zu jener Sicherheit der Zeichnung gelangte, welche wir ihn um das Jahr 1490. in seinen mayländischen Arbeiten darlegen sehn. Eine Ueber- gangsepoche möchte die schöne Hl. Katharina der kön. Gallerie zu Copenhagen andeuten, auf dieses Bild wiederum die geist-
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Vaſari beruͤhrt, iſt der Carton mit den erſten Menſchen im Paradieſe verſchollen; eben ſo die beiden Meduſenhaͤupter; denn jener, den man in der Gallerie der Uffizj zu Florenz zeigt, iſt ſicher eine Arbeit der Mitte des ſechzehnten Jahrhun- dertes. Indeß beſitzen wir noch das kleine Halbrund im obe- ren Kreuzgange des Kloſters ſ. Onofrio zu Rom, in welchem die Madonna mit dem Kinde und das Bruſtbild des damali- gen Vorſtehers der kloͤſterlichen Gemeinde; eine Arbeit, welche ihrer groͤßeren Sicherheit ungeachtet, noch an die uͤbrigen Flo- rentiner der ſpaͤteren Decennien des funfzehnten Jahrhunder- tes und beſonders eben an ſeinen Mitſchuͤler Lorenzo di Credi, erinnert. Und allerdings mußten ſeine fruͤhere Arbeiten in die Zeit und Schule ſehen, von welcher ſeine Beſtrebungen ausge- gangen waren; nicht in jene ſpaͤtere, welche ſeine unermuͤdli- chen Forſchungen in der Folge hervorgerufen. Auch die kleine Madonna im Hauſe Buonviſt zu Lucca, welche dort, ich glaube mit vollem Grunde, fuͤr eine Jugendarbeit des Lionardo gilt, vereinigt den Aufdruck ſeines eigenthuͤmlichen Strebens mit einigen Foͤrmlichkeiten und Beſchraͤnktheiten der florentiniſchen Maler der Zeit des Domenico Ghirlandajo; und die koͤſtliche, leider verſchollene Carità, ehmals die groͤßte Zierde der chur- fuͤrſtlichen Gemaͤldeſammlung zu Caſſel, zeugte, bey hoher Aus- bildung der Koͤpfe und faſt bildneriſchem Style der Anordnung, doch in der Ausfuͤhrung des Nackten fuͤr die Vermuthung: daß Lionardo eine laͤngere Zeit hindurch gemalt habe, bevor er zu jener Gruͤndlichkeit des Wiſſens, zu jener Sicherheit der Zeichnung gelangte, welche wir ihn um das Jahr 1490. in ſeinen maylaͤndiſchen Arbeiten darlegen ſehn. Eine Ueber- gangsepoche moͤchte die ſchoͤne Hl. Katharina der koͤn. Gallerie zu Copenhagen andeuten, auf dieſes Bild wiederum die geiſt-
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Vaſari beruͤhrt, iſt der Carton mit den erſten Menſchen im
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denn jener, den man in der Gallerie der Uffizj zu Florenz
zeigt, iſt ſicher eine Arbeit der Mitte des ſechzehnten Jahrhun-
dertes. Indeß beſitzen wir noch das kleine Halbrund im obe-
ren Kreuzgange des Kloſters ſ. Onofrio zu Rom, in welchem
die Madonna mit dem Kinde und das Bruſtbild des damali-
gen Vorſtehers der kloͤſterlichen Gemeinde; eine Arbeit, welche
ihrer groͤßeren Sicherheit ungeachtet, noch an die uͤbrigen Flo-
rentiner der ſpaͤteren Decennien des funfzehnten Jahrhunder-
tes und beſonders eben an ſeinen Mitſchuͤler Lorenzo di Credi,
erinnert. Und allerdings mußten ſeine fruͤhere Arbeiten in die
Zeit und Schule ſehen, von welcher ſeine Beſtrebungen ausge-
gangen waren; nicht in jene ſpaͤtere, welche ſeine unermuͤdli-
chen Forſchungen in der Folge hervorgerufen. Auch die kleine
Madonna im Hauſe Buonviſt zu Lucca, welche dort, ich glaube
mit vollem Grunde, fuͤr eine Jugendarbeit des Lionardo gilt,
vereinigt den Aufdruck ſeines eigenthuͤmlichen Strebens mit
einigen Foͤrmlichkeiten und Beſchraͤnktheiten der florentiniſchen
Maler der Zeit des Domenico Ghirlandajo; und die koͤſtliche,
leider verſchollene Carità, ehmals die groͤßte Zierde der chur-
fuͤrſtlichen Gemaͤldeſammlung zu Caſſel, zeugte, bey hoher Aus-
bildung der Koͤpfe und faſt bildneriſchem Style der Anordnung,
doch in der Ausfuͤhrung des Nackten fuͤr die Vermuthung:
daß Lionardo eine laͤngere Zeit hindurch gemalt habe, bevor
er zu jener Gruͤndlichkeit des Wiſſens, zu jener Sicherheit der
Zeichnung gelangte, welche wir ihn um das Jahr 1490. in
ſeinen maylaͤndiſchen Arbeiten darlegen ſehn. Eine Ueber-
gangsepoche moͤchte die ſchoͤne Hl. Katharina der koͤn. Gallerie
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/325>, abgerufen am 23.11.2024.
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