ihm unbekannt geblieben, oder auch, weil er sie nicht nach Ver- dienst zu würdigen wußte; gewiß war er nicht vorbereitet, den unumgänglich höchst lehrreichen Entwickelungsgang des Lio- nardo mit wünschenswerther Umständlichkeit anzugeben.
Allerdings schildert uns Vasari den jugendlichen Lionardo ganz, wie wir ihn voraussetzen müßten, als einen von der Auffassung des Mannichfaltigen, von der Nachbildung des Einzelnen unablässig zum Nachdenken über das Allgemeine und Durchwaltende hinübergezogenen, bald leidenschaftlich hin- gegebenen, bald tiefsinnig in sich versunkenen Jüngling. Doch wäre es auch wichtig an Beyspielen zu sehen, wie er allge- mach in der Darstellung und vielseitigsten Herrschaft über sei- nen Stoff jene hohe Stufe erreichte, welche er einnahm, als er innerhalb des letzten Jahrzehndes des funfzehnten Jahr- hundertes, verschiedene Jahre vor den Jugendversuchen Ra- phaels und vor den ersten namhaften Werken des Buona- ruota, das berühmte Abendmahl im Refectorio des Klosters alle grazie zu Mayland vollbrachte. Möge man immerhin in diesem Werke die Jugendlichkeit vermissen, welche seinem damaligen Lebensalter nicht mehr angemessen war; möge man immerhin in den Stellungen und Bewegungen zu viel Be- dächtlichkeit und Wahl, zu wenig Unbefangenheit wahrzuneh- men glauben, so bleibt doch so viel gewiß, daß Lionardo, in harmonischer Vertheilung und Anordnung des Einzelnen, in sicherer Angabe der Linien und Formen organischer Körper, in deren Zeichnung und Modellirung, seinen Zeitgenossen weit vorangeeilt war und ihnen zuerst gewiesen hat, bis wohin der Maler in der Herrschaft über die Vermittler seiner Darstel- lung gelangen könne.
Unter den wenigen Jugendwerken des Lionardo, welche
ihm unbekannt geblieben, oder auch, weil er ſie nicht nach Ver- dienſt zu wuͤrdigen wußte; gewiß war er nicht vorbereitet, den unumgaͤnglich hoͤchſt lehrreichen Entwickelungsgang des Lio- nardo mit wuͤnſchenswerther Umſtaͤndlichkeit anzugeben.
Allerdings ſchildert uns Vaſari den jugendlichen Lionardo ganz, wie wir ihn vorausſetzen muͤßten, als einen von der Auffaſſung des Mannichfaltigen, von der Nachbildung des Einzelnen unablaͤſſig zum Nachdenken uͤber das Allgemeine und Durchwaltende hinuͤbergezogenen, bald leidenſchaftlich hin- gegebenen, bald tiefſinnig in ſich verſunkenen Juͤngling. Doch waͤre es auch wichtig an Beyſpielen zu ſehen, wie er allge- mach in der Darſtellung und vielſeitigſten Herrſchaft uͤber ſei- nen Stoff jene hohe Stufe erreichte, welche er einnahm, als er innerhalb des letzten Jahrzehndes des funfzehnten Jahr- hundertes, verſchiedene Jahre vor den Jugendverſuchen Ra- phaels und vor den erſten namhaften Werken des Buona- ruota, das beruͤhmte Abendmahl im Refectorio des Kloſters alle grazie zu Mayland vollbrachte. Moͤge man immerhin in dieſem Werke die Jugendlichkeit vermiſſen, welche ſeinem damaligen Lebensalter nicht mehr angemeſſen war; moͤge man immerhin in den Stellungen und Bewegungen zu viel Be- daͤchtlichkeit und Wahl, zu wenig Unbefangenheit wahrzuneh- men glauben, ſo bleibt doch ſo viel gewiß, daß Lionardo, in harmoniſcher Vertheilung und Anordnung des Einzelnen, in ſicherer Angabe der Linien und Formen organiſcher Koͤrper, in deren Zeichnung und Modellirung, ſeinen Zeitgenoſſen weit vorangeeilt war und ihnen zuerſt gewieſen hat, bis wohin der Maler in der Herrſchaft uͤber die Vermittler ſeiner Darſtel- lung gelangen koͤnne.
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unumgaͤnglich hoͤchſt lehrreichen Entwickelungsgang des Lio-
nardo mit wuͤnſchenswerther Umſtaͤndlichkeit anzugeben.
Allerdings ſchildert uns Vaſari den jugendlichen Lionardo
ganz, wie wir ihn vorausſetzen muͤßten, als einen von der
Auffaſſung des Mannichfaltigen, von der Nachbildung des
Einzelnen unablaͤſſig zum Nachdenken uͤber das Allgemeine
und Durchwaltende hinuͤbergezogenen, bald leidenſchaftlich hin-
gegebenen, bald tiefſinnig in ſich verſunkenen Juͤngling. Doch
waͤre es auch wichtig an Beyſpielen zu ſehen, wie er allge-
mach in der Darſtellung und vielſeitigſten Herrſchaft uͤber ſei-
nen Stoff jene hohe Stufe erreichte, welche er einnahm, als
er innerhalb des letzten Jahrzehndes des funfzehnten Jahr-
hundertes, verſchiedene Jahre vor den Jugendverſuchen Ra-
phaels und vor den erſten namhaften Werken des Buona-
ruota, das beruͤhmte Abendmahl im Refectorio des Kloſters
alle grazie zu Mayland vollbrachte. Moͤge man immerhin
in dieſem Werke die Jugendlichkeit vermiſſen, welche ſeinem
damaligen Lebensalter nicht mehr angemeſſen war; moͤge man
immerhin in den Stellungen und Bewegungen zu viel Be-
daͤchtlichkeit und Wahl, zu wenig Unbefangenheit wahrzuneh-
men glauben, ſo bleibt doch ſo viel gewiß, daß Lionardo, in
harmoniſcher Vertheilung und Anordnung des Einzelnen, in
ſicherer Angabe der Linien und Formen organiſcher Koͤrper, in
deren Zeichnung und Modellirung, ſeinen Zeitgenoſſen weit
vorangeeilt war und ihnen zuerſt gewieſen hat, bis wohin der
Maler in der Herrſchaft uͤber die Vermittler ſeiner Darſtel-
lung gelangen koͤnne.
Unter den wenigen Jugendwerken des Lionardo, welche
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/324>, abgerufen am 23.11.2024.
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