ebenfalls ein gewisses bildnerisches Bestreben eingeflößt, wel- ches ihn frühe zu einer eignen Mischung seines Bindemittels anleitete, vermöge deren es ihm gelang, auch in seinen Ge- mälden a Tempera eine Modellirung hervorzubringen, welche seinen hübschen, träumerisch-sanften Christuskindern ein run- des und gefälliges Ansehn giebt. Doch trieben die Anregun- gen des Bildners in dem Gemüthe des Lionardo tiefere Wur- zeln; und wenn Lorenzo ein langes Leben hindurch den engen Kreis bescheiden einfältiger Madonnen, lieblicher, allein zu gleichgültiger Christuskinder und Engelein nie überschritten hat, deren einzelne Ausgaben zu Florenz häufig vorhanden, doch von alten Copien und Nachahmungen zu unterscheiden sind: so leitete hingegen den Lionardo die forschende, grübelnde, nachdenkliche Richtung seines Meisters frühe zu gründlicher Erforschung der Gesetze der Gestaltung und vermöge dieser in seinem Gebrauche der organischen Formen zu einer bis dahin unbekannten Sicherheit der Handhabung, Feinheit der Aus- bildung, Tiefe der Bedeutung.
Lionardo erwarb sich unstreitig schon bey seinen Zeitgenos- sen Verehrung und Ansehn, und gewiß hat man nie aufgehört seine Werke hochzuschätzen. Doch hat man ihm bisher in der neueren Kunstgeschichte die Stelle versagt, welche ihm zukommt; die Stelle nemlich des Begründers eines bestimmteren anato- mischen Wissens, eines deutlicheren Bewußtseyns der Gesetze der Rundung und Verschiebung. Vielleicht trägt Vasari die Schuld, dem es nicht klar geworden, wie eben die grübelnde, minder praktische Richtung des Lionardo nothwendig war, um die Nebel, welche die malerische Darstellung noch immer umga- ben, durchaus zu zerstreuen. Leider überging dieser Schriftstel- ler die früheren Leistungen des Lionardo, entweder, weil sie
II. 20
ebenfalls ein gewiſſes bildneriſches Beſtreben eingefloͤßt, wel- ches ihn fruͤhe zu einer eignen Miſchung ſeines Bindemittels anleitete, vermoͤge deren es ihm gelang, auch in ſeinen Ge- maͤlden a Tempera eine Modellirung hervorzubringen, welche ſeinen huͤbſchen, traͤumeriſch-ſanften Chriſtuskindern ein run- des und gefaͤlliges Anſehn giebt. Doch trieben die Anregun- gen des Bildners in dem Gemuͤthe des Lionardo tiefere Wur- zeln; und wenn Lorenzo ein langes Leben hindurch den engen Kreis beſcheiden einfaͤltiger Madonnen, lieblicher, allein zu gleichguͤltiger Chriſtuskinder und Engelein nie uͤberſchritten hat, deren einzelne Ausgaben zu Florenz haͤufig vorhanden, doch von alten Copien und Nachahmungen zu unterſcheiden ſind: ſo leitete hingegen den Lionardo die forſchende, gruͤbelnde, nachdenkliche Richtung ſeines Meiſters fruͤhe zu gruͤndlicher Erforſchung der Geſetze der Geſtaltung und vermoͤge dieſer in ſeinem Gebrauche der organiſchen Formen zu einer bis dahin unbekannten Sicherheit der Handhabung, Feinheit der Aus- bildung, Tiefe der Bedeutung.
Lionardo erwarb ſich unſtreitig ſchon bey ſeinen Zeitgenoſ- ſen Verehrung und Anſehn, und gewiß hat man nie aufgehoͤrt ſeine Werke hochzuſchaͤtzen. Doch hat man ihm bisher in der neueren Kunſtgeſchichte die Stelle verſagt, welche ihm zukommt; die Stelle nemlich des Begruͤnders eines beſtimmteren anato- miſchen Wiſſens, eines deutlicheren Bewußtſeyns der Geſetze der Rundung und Verſchiebung. Vielleicht traͤgt Vaſari die Schuld, dem es nicht klar geworden, wie eben die gruͤbelnde, minder praktiſche Richtung des Lionardo nothwendig war, um die Nebel, welche die maleriſche Darſtellung noch immer umga- ben, durchaus zu zerſtreuen. Leider uͤberging dieſer Schriftſtel- ler die fruͤheren Leiſtungen des Lionardo, entweder, weil ſie
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ebenfalls ein gewiſſes bildneriſches Beſtreben eingefloͤßt, wel-
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anleitete, vermoͤge deren es ihm gelang, auch in ſeinen Ge-
maͤlden a Tempera eine Modellirung hervorzubringen, welche
ſeinen huͤbſchen, traͤumeriſch-ſanften Chriſtuskindern ein run-
des und gefaͤlliges Anſehn giebt. Doch trieben die Anregun-
gen des Bildners in dem Gemuͤthe des Lionardo tiefere Wur-
zeln; und wenn Lorenzo ein langes Leben hindurch den engen
Kreis beſcheiden einfaͤltiger Madonnen, lieblicher, allein zu
gleichguͤltiger Chriſtuskinder und Engelein nie uͤberſchritten hat,
deren einzelne Ausgaben zu Florenz haͤufig vorhanden, doch
von alten Copien und Nachahmungen zu unterſcheiden ſind:
ſo leitete hingegen den Lionardo die forſchende, gruͤbelnde,
nachdenkliche Richtung ſeines Meiſters fruͤhe zu gruͤndlicher
Erforſchung der Geſetze der Geſtaltung und vermoͤge dieſer in
ſeinem Gebrauche der organiſchen Formen zu einer bis dahin
unbekannten Sicherheit der Handhabung, Feinheit der Aus-
bildung, Tiefe der Bedeutung.
Lionardo erwarb ſich unſtreitig ſchon bey ſeinen Zeitgenoſ-
ſen Verehrung und Anſehn, und gewiß hat man nie aufgehoͤrt
ſeine Werke hochzuſchaͤtzen. Doch hat man ihm bisher in der
neueren Kunſtgeſchichte die Stelle verſagt, welche ihm zukommt;
die Stelle nemlich des Begruͤnders eines beſtimmteren anato-
miſchen Wiſſens, eines deutlicheren Bewußtſeyns der Geſetze der
Rundung und Verſchiebung. Vielleicht traͤgt Vaſari die Schuld,
dem es nicht klar geworden, wie eben die gruͤbelnde, minder
praktiſche Richtung des Lionardo nothwendig war, um die
Nebel, welche die maleriſche Darſtellung noch immer umga-
ben, durchaus zu zerſtreuen. Leider uͤberging dieſer Schriftſtel-
ler die fruͤheren Leiſtungen des Lionardo, entweder, weil ſie
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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/323>, abgerufen am 22.11.2024.
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