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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827.

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den, weil deren Entwickelung nothwendig nach ganz anderen
Gesetzen erfolgt ist, als die Entstehung der Kunst an sich
selbst. Denn obwohl man in den Sitzen der ältesten Bil-
dung dem Mittelalter in technischen Dingen weit überlegen
war, so kannte man doch vor Erfindung eigentlicher Kunst
die Darstellung vermöge richtig verstandener, glücklich nachge-
bildeter Naturformen, nun gar die Möglichkeit illusorischer
Wirkungen, nicht einmal dem Begriffe nach; wohingegen
im Mittelalter, durch mündliche Ueberlieferung, durch die
Schriftsteller, und selbst durch die Denkmale unausgesetzt eine
halbdeutliche Vorstellung von dem eigentlichen Ziele der bil-
denden Künste sich erhalten mußte. Betrachtete man aber
auch in den dunkelsten Zeiten die rohen Versuche damaliger
Künstler nicht etwa als Andeutungen, oder vereinbarliche Be-
zeichnungen, sondern als Darstellungen wirklichen Seyns
und Geschehens; *) so war das Aufstreben der neueren Kunst
seit der Mitte des dreyzehnten Jahrhunderts das Werk der
Steigerung längst schon wirksamer Kräfte, des Wiedererwa-
chens vorhandener, nur schlummernder Begriffe. Es wird
demnach nicht befremden können, wenn wir bereits in ihren
frühesten Leistungen die Begeisterung für die leitenden Be-
griffe des Weltalters mit der Empfänglichkeit für die ursprüng-
liche Bedeutung der organischen Formen gleichen Schritt hal-
ten sehn.

Bey den älteren Nachahmern der byzantinischen Maler,
dem Giunta, Guido und Anderen, mochten Schwierigkeiten in
der Aneignung einer ganz neuen Manier die Aufmerksamkeit

*) S. Paul Diac, Luitprand, Leo, Ost, und Andere an
häufig angezogenen Stellen.
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den, weil deren Entwickelung nothwendig nach ganz anderen
Geſetzen erfolgt iſt, als die Entſtehung der Kunſt an ſich
ſelbſt. Denn obwohl man in den Sitzen der aͤlteſten Bil-
dung dem Mittelalter in techniſchen Dingen weit uͤberlegen
war, ſo kannte man doch vor Erfindung eigentlicher Kunſt
die Darſtellung vermoͤge richtig verſtandener, gluͤcklich nachge-
bildeter Naturformen, nun gar die Moͤglichkeit illuſoriſcher
Wirkungen, nicht einmal dem Begriffe nach; wohingegen
im Mittelalter, durch muͤndliche Ueberlieferung, durch die
Schriftſteller, und ſelbſt durch die Denkmale unausgeſetzt eine
halbdeutliche Vorſtellung von dem eigentlichen Ziele der bil-
denden Kuͤnſte ſich erhalten mußte. Betrachtete man aber
auch in den dunkelſten Zeiten die rohen Verſuche damaliger
Kuͤnſtler nicht etwa als Andeutungen, oder vereinbarliche Be-
zeichnungen, ſondern als Darſtellungen wirklichen Seyns
und Geſchehens; *) ſo war das Aufſtreben der neueren Kunſt
ſeit der Mitte des dreyzehnten Jahrhunderts das Werk der
Steigerung laͤngſt ſchon wirkſamer Kraͤfte, des Wiedererwa-
chens vorhandener, nur ſchlummernder Begriffe. Es wird
demnach nicht befremden koͤnnen, wenn wir bereits in ihren
fruͤheſten Leiſtungen die Begeiſterung fuͤr die leitenden Be-
griffe des Weltalters mit der Empfaͤnglichkeit fuͤr die urſpruͤng-
liche Bedeutung der organiſchen Formen gleichen Schritt hal-
ten ſehn.

Bey den aͤlteren Nachahmern der byzantiniſchen Maler,
dem Giunta, Guido und Anderen, mochten Schwierigkeiten in
der Aneignung einer ganz neuen Manier die Aufmerkſamkeit

*) S. Paul Diac, Luitprand, Leo, Oſt, und Andere an
haͤufig angezogenen Stellen.
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[3/0021] den, weil deren Entwickelung nothwendig nach ganz anderen Geſetzen erfolgt iſt, als die Entſtehung der Kunſt an ſich ſelbſt. Denn obwohl man in den Sitzen der aͤlteſten Bil- dung dem Mittelalter in techniſchen Dingen weit uͤberlegen war, ſo kannte man doch vor Erfindung eigentlicher Kunſt die Darſtellung vermoͤge richtig verſtandener, gluͤcklich nachge- bildeter Naturformen, nun gar die Moͤglichkeit illuſoriſcher Wirkungen, nicht einmal dem Begriffe nach; wohingegen im Mittelalter, durch muͤndliche Ueberlieferung, durch die Schriftſteller, und ſelbſt durch die Denkmale unausgeſetzt eine halbdeutliche Vorſtellung von dem eigentlichen Ziele der bil- denden Kuͤnſte ſich erhalten mußte. Betrachtete man aber auch in den dunkelſten Zeiten die rohen Verſuche damaliger Kuͤnſtler nicht etwa als Andeutungen, oder vereinbarliche Be- zeichnungen, ſondern als Darſtellungen wirklichen Seyns und Geſchehens; *) ſo war das Aufſtreben der neueren Kunſt ſeit der Mitte des dreyzehnten Jahrhunderts das Werk der Steigerung laͤngſt ſchon wirkſamer Kraͤfte, des Wiedererwa- chens vorhandener, nur ſchlummernder Begriffe. Es wird demnach nicht befremden koͤnnen, wenn wir bereits in ihren fruͤheſten Leiſtungen die Begeiſterung fuͤr die leitenden Be- griffe des Weltalters mit der Empfaͤnglichkeit fuͤr die urſpruͤng- liche Bedeutung der organiſchen Formen gleichen Schritt hal- ten ſehn. Bey den aͤlteren Nachahmern der byzantiniſchen Maler, dem Giunta, Guido und Anderen, mochten Schwierigkeiten in der Aneignung einer ganz neuen Manier die Aufmerkſamkeit *) S. Paul Diac, Luitprand, Leo, Oſt, und Andere an haͤufig angezogenen Stellen. 1 *

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 2. Berlin u. a., 1827, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen02_1827/21>, abgerufen am 29.03.2024.