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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827.

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Gegenbild zu haben; doch wird es unmöglich seyn, das Gesetz,
nach welchem sie entstehet und wirkt, jemals etwa eben so
deutlich zu erkennen und darzulegen, als längst schon das Ver-
hältniß und die Folge der Töne erkannt und bestimmt worden
ist. Denn Töne sind bey weitem geeigneter, abgesondert auf-
gefaßt und betrachtet zu werden, als Formen und Linien,
weßhalb wir es dahin gestellt seyn lassen, ob die grade, oder
die gebogene Linie, die gewölbte, oder die kantige Form die
schönere sey; was Manche beschäftigt hat, obwohl nach der
Analogie der Musik anzunehmen ist, daß keine Linie, oder
Form an sich selbst, vielmehr nur in bestimmten Verbindun-
gen, Reihen und Verhältnissen jene gleichsam musikalische *)
Schönheit hervorbringt.

Da es nun vornehmlich in der Baukunst am Tage liegt,
daß bestimmte räumliche Verhältnisse schon an und für sich
über die Seele eine unwiderstehliche Gewalt ausüben, so nannte
Schiller diese Schönheit die architectonische; wie wir denn
auch im gemeinen Leben die Verhältnisse des menschlichen,
oder anderer belebter Körper, mit demselben Gleichniß den
Bau zu nennen pflegen. Doch scheint mir dieses Bild, weil
es von einem Künstlichen und Abgeleiteten entlehnt ist, nur
wenig geeignet, eine ursprüngliche Schönheit zu bezeichnen;
und ungleich schöner gewiß erklärten sich viele Alten in um-
gekehrter Richtung die Verhältnisse der Baukunst eben aus
den Verhältnissen natürlicher und belebter Körper. Denn auch
bey Menschen, wie es dem natursinnigen Griechen so deutlich
war, kann uns das bloße Ebenmaaß ihrer Züge gleichsam

*) Leibnitii ep. (ed. Kortholt. Vol. 1. p. 241.) -- "Musica
est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi."

Gegenbild zu haben; doch wird es unmoͤglich ſeyn, das Geſetz,
nach welchem ſie entſtehet und wirkt, jemals etwa eben ſo
deutlich zu erkennen und darzulegen, als laͤngſt ſchon das Ver-
haͤltniß und die Folge der Toͤne erkannt und beſtimmt worden
iſt. Denn Toͤne ſind bey weitem geeigneter, abgeſondert auf-
gefaßt und betrachtet zu werden, als Formen und Linien,
weßhalb wir es dahin geſtellt ſeyn laſſen, ob die grade, oder
die gebogene Linie, die gewoͤlbte, oder die kantige Form die
ſchoͤnere ſey; was Manche beſchaͤftigt hat, obwohl nach der
Analogie der Muſik anzunehmen iſt, daß keine Linie, oder
Form an ſich ſelbſt, vielmehr nur in beſtimmten Verbindun-
gen, Reihen und Verhaͤltniſſen jene gleichſam muſikaliſche *)
Schoͤnheit hervorbringt.

Da es nun vornehmlich in der Baukunſt am Tage liegt,
daß beſtimmte raͤumliche Verhaͤltniſſe ſchon an und fuͤr ſich
uͤber die Seele eine unwiderſtehliche Gewalt ausuͤben, ſo nannte
Schiller dieſe Schoͤnheit die architectoniſche; wie wir denn
auch im gemeinen Leben die Verhaͤltniſſe des menſchlichen,
oder anderer belebter Koͤrper, mit demſelben Gleichniß den
Bau zu nennen pflegen. Doch ſcheint mir dieſes Bild, weil
es von einem Kuͤnſtlichen und Abgeleiteten entlehnt iſt, nur
wenig geeignet, eine urſpruͤngliche Schoͤnheit zu bezeichnen;
und ungleich ſchoͤner gewiß erklaͤrten ſich viele Alten in um-
gekehrter Richtung die Verhaͤltniſſe der Baukunſt eben aus
den Verhaͤltniſſen natuͤrlicher und belebter Koͤrper. Denn auch
bey Menſchen, wie es dem naturſinnigen Griechen ſo deutlich
war, kann uns das bloße Ebenmaaß ihrer Zuͤge gleichſam

*) Leibnitii ep. (ed. Kortholt. Vol. 1. p. 241.) — „Musica
est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi.“
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[141/0159] Gegenbild zu haben; doch wird es unmoͤglich ſeyn, das Geſetz, nach welchem ſie entſtehet und wirkt, jemals etwa eben ſo deutlich zu erkennen und darzulegen, als laͤngſt ſchon das Ver- haͤltniß und die Folge der Toͤne erkannt und beſtimmt worden iſt. Denn Toͤne ſind bey weitem geeigneter, abgeſondert auf- gefaßt und betrachtet zu werden, als Formen und Linien, weßhalb wir es dahin geſtellt ſeyn laſſen, ob die grade, oder die gebogene Linie, die gewoͤlbte, oder die kantige Form die ſchoͤnere ſey; was Manche beſchaͤftigt hat, obwohl nach der Analogie der Muſik anzunehmen iſt, daß keine Linie, oder Form an ſich ſelbſt, vielmehr nur in beſtimmten Verbindun- gen, Reihen und Verhaͤltniſſen jene gleichſam muſikaliſche *) Schoͤnheit hervorbringt. Da es nun vornehmlich in der Baukunſt am Tage liegt, daß beſtimmte raͤumliche Verhaͤltniſſe ſchon an und fuͤr ſich uͤber die Seele eine unwiderſtehliche Gewalt ausuͤben, ſo nannte Schiller dieſe Schoͤnheit die architectoniſche; wie wir denn auch im gemeinen Leben die Verhaͤltniſſe des menſchlichen, oder anderer belebter Koͤrper, mit demſelben Gleichniß den Bau zu nennen pflegen. Doch ſcheint mir dieſes Bild, weil es von einem Kuͤnſtlichen und Abgeleiteten entlehnt iſt, nur wenig geeignet, eine urſpruͤngliche Schoͤnheit zu bezeichnen; und ungleich ſchoͤner gewiß erklaͤrten ſich viele Alten in um- gekehrter Richtung die Verhaͤltniſſe der Baukunſt eben aus den Verhaͤltniſſen natuͤrlicher und belebter Koͤrper. Denn auch bey Menſchen, wie es dem naturſinnigen Griechen ſo deutlich war, kann uns das bloße Ebenmaaß ihrer Zuͤge gleichſam *) Leibnitii ep. (ed. Kortholt. Vol. 1. p. 241.) — „Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi.“

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/159>, abgerufen am 22.11.2024.