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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827.

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menschlicher Formen entlehnt sey, deren die Marmisten vor-
nehmlich des römischen Alterthumes zur Vereinfachung ihrer
Gewinn bezweckenden Arbeit bedurften, und welche sie, wie
so unendliche Beispiele beweisen, wirklich in Anwendung gesetzt.

Wenn es demnach bis dahin noch wenig ausgemacht ist,
ob das Vorbild dieser Kunstgelehrten auch wirklich aus den
besten Leistungen des Alterthumes entlehnt sey; wenn es da-
gegen gewiß ist, daß ein absichtliches Unterordnen alles Le-
bendigen und Geistigen unter vorgefaßte Geschmacksansichten,
der Bildnerey des Alterthumes nicht ohne schreyenden Zwang
beygelegt wird: so werden wir um so weniger einräumen dür-
fen, daß eine solche, weder in sich selbst, noch historisch be-
gründete Formenwahl als Maßstab des Werthes an neuere
Leistungen angelegt werde. Welcher ächte Kunstfreund könnte
ohne Aufwallung jener Zergliederungen Raphaels gedenken *);
welche den größten und schönsten Geist nach den Eintheilun-
gen eines mäßig klugen Systemes zerstücken, um die Bruch-
stücke alsdann, nach Maßgabe ihrer Annäherung an die Vor-
urtheile und Sinnesgewöhnungen einer selbst unfruchtbaren
Geschmackspartheyung, bald vornehm und herablassend zu
billigen, bald absprechend und bitter zu tadeln? Was denn
würde wohl den neueren Dichtern übrig bleiben, wenn man
über ihren Werth, oder Unwerth nach dem Maße der Annä-
herung ihres Ausdrucks an griechische Anschaulichkeit und Fülle,
oder an römische Schärfe und Gedrängtheit, absprechen wollte?

Als ein allgemeines Vorbild innerer Vollendung, festen,
unwandelbar durchgeführten Wollens mögen die Alten nie auf-
hören, jüngere Geschlechter zum Nacheifer anzuspornen. Als

*) In Fernows Schriften, in den Propyläen, und a. a. St.

menſchlicher Formen entlehnt ſey, deren die Marmiſten vor-
nehmlich des roͤmiſchen Alterthumes zur Vereinfachung ihrer
Gewinn bezweckenden Arbeit bedurften, und welche ſie, wie
ſo unendliche Beiſpiele beweiſen, wirklich in Anwendung geſetzt.

Wenn es demnach bis dahin noch wenig ausgemacht iſt,
ob das Vorbild dieſer Kunſtgelehrten auch wirklich aus den
beſten Leiſtungen des Alterthumes entlehnt ſey; wenn es da-
gegen gewiß iſt, daß ein abſichtliches Unterordnen alles Le-
bendigen und Geiſtigen unter vorgefaßte Geſchmacksanſichten,
der Bildnerey des Alterthumes nicht ohne ſchreyenden Zwang
beygelegt wird: ſo werden wir um ſo weniger einraͤumen duͤr-
fen, daß eine ſolche, weder in ſich ſelbſt, noch hiſtoriſch be-
gruͤndete Formenwahl als Maßſtab des Werthes an neuere
Leiſtungen angelegt werde. Welcher aͤchte Kunſtfreund koͤnnte
ohne Aufwallung jener Zergliederungen Raphaels gedenken *);
welche den groͤßten und ſchoͤnſten Geiſt nach den Eintheilun-
gen eines maͤßig klugen Syſtemes zerſtuͤcken, um die Bruch-
ſtuͤcke alsdann, nach Maßgabe ihrer Annaͤherung an die Vor-
urtheile und Sinnesgewoͤhnungen einer ſelbſt unfruchtbaren
Geſchmackspartheyung, bald vornehm und herablaſſend zu
billigen, bald abſprechend und bitter zu tadeln? Was denn
wuͤrde wohl den neueren Dichtern uͤbrig bleiben, wenn man
uͤber ihren Werth, oder Unwerth nach dem Maße der Annaͤ-
herung ihres Ausdrucks an griechiſche Anſchaulichkeit und Fuͤlle,
oder an roͤmiſche Schaͤrfe und Gedraͤngtheit, abſprechen wollte?

Als ein allgemeines Vorbild innerer Vollendung, feſten,
unwandelbar durchgefuͤhrten Wollens moͤgen die Alten nie auf-
hoͤren, juͤngere Geſchlechter zum Nacheifer anzuſpornen. Als

*) In Fernows Schriften, in den Propylaͤen, und a. a. St.
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[116/0134] menſchlicher Formen entlehnt ſey, deren die Marmiſten vor- nehmlich des roͤmiſchen Alterthumes zur Vereinfachung ihrer Gewinn bezweckenden Arbeit bedurften, und welche ſie, wie ſo unendliche Beiſpiele beweiſen, wirklich in Anwendung geſetzt. Wenn es demnach bis dahin noch wenig ausgemacht iſt, ob das Vorbild dieſer Kunſtgelehrten auch wirklich aus den beſten Leiſtungen des Alterthumes entlehnt ſey; wenn es da- gegen gewiß iſt, daß ein abſichtliches Unterordnen alles Le- bendigen und Geiſtigen unter vorgefaßte Geſchmacksanſichten, der Bildnerey des Alterthumes nicht ohne ſchreyenden Zwang beygelegt wird: ſo werden wir um ſo weniger einraͤumen duͤr- fen, daß eine ſolche, weder in ſich ſelbſt, noch hiſtoriſch be- gruͤndete Formenwahl als Maßſtab des Werthes an neuere Leiſtungen angelegt werde. Welcher aͤchte Kunſtfreund koͤnnte ohne Aufwallung jener Zergliederungen Raphaels gedenken *); welche den groͤßten und ſchoͤnſten Geiſt nach den Eintheilun- gen eines maͤßig klugen Syſtemes zerſtuͤcken, um die Bruch- ſtuͤcke alsdann, nach Maßgabe ihrer Annaͤherung an die Vor- urtheile und Sinnesgewoͤhnungen einer ſelbſt unfruchtbaren Geſchmackspartheyung, bald vornehm und herablaſſend zu billigen, bald abſprechend und bitter zu tadeln? Was denn wuͤrde wohl den neueren Dichtern uͤbrig bleiben, wenn man uͤber ihren Werth, oder Unwerth nach dem Maße der Annaͤ- herung ihres Ausdrucks an griechiſche Anſchaulichkeit und Fuͤlle, oder an roͤmiſche Schaͤrfe und Gedraͤngtheit, abſprechen wollte? Als ein allgemeines Vorbild innerer Vollendung, feſten, unwandelbar durchgefuͤhrten Wollens moͤgen die Alten nie auf- hoͤren, juͤngere Geſchlechter zum Nacheifer anzuſpornen. Als *) In Fernows Schriften, in den Propylaͤen, und a. a. St.

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/134>, abgerufen am 06.05.2024.