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Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827.

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tiges Anzeichen der Individualität, oder, in ihrem Sinne, des
Nichtidealen *); so steht zu befürchten, daß ihr Formenideal
nicht selten, wenn nicht gar durchhin eben nur aus solchen
Uebereinkömmlichkeiten und Allgemeinheiten des Zuschnitts **)

*) So nennt Winckelmann den einzigen seiner Idee ganz
entsprechenden Faun, den barberinischen, gegenwärtig zu München,
eine der vornehmsten Zierden der unvergleichlichen Antikensamm-
lung S. M. des Königs Ludewig von Bayern, an mehr als ei-
ner Stelle: eine Nachbildung der gemeinen Natur. Was
konnte ihn dazu veranlassen, wenn nicht etwa jener Lebenshauch,
den minder befangene Formen-Idealisten, die neueren Herausg.
Winckelmanns (Anm. 203 zum Buch V. der K. G.) eben so
meisterlich, als sinnig geschildert haben. "Wie er ermüdet, sagen
sie, der Ruhe hingegeben daliegt, wie alle Sehnen der Glieder los-
gestrickt sind, ist unverbesserlich, ja unnachahmlich ausgedrückt.
Man glaubt ihn tief athmen zu hören, zu sehen, wie ihm der
Wein die Adern schwellt, die erregten Pulse schlagen." -- Doch
übergehen sie weislich, was dasselbe Kunstwerk als Darstellung sei-
ner Idee leistet. Es ist ein Anderes, dem lebendigen, nothwendig
richtigen Sinne nachzugeben, ein Anderes, die Dinge in einen
im Voraus eingerichteten Zusammenhang von Begriffen und Ge-
danken einzuzwängen.
**) Was innerhalb eines gewissen Kreises für das äußere
Merkmal der Idealität gilt, kennen wir nunmehr aus den Bil-
dern zur neuen Ausg. der Werke Winckelmanns. Dieselben Kf.
erklärten in einem Programm der Jen. Lit. Z. von zween zusam-
mengeordneten Figuren, die eine, welcher die schon berührten rö-
mischen Proportionen in auffallendem Maße eigen sind, eben wegen
jenes zwecklos allgemeinen Schnittes der Formen, den ich den
römischen Werkstätten beizumessen geneigt bin, für die göttliche
und ideale; die schönere hingegen, welche griechische Verhältnisse
und eine gefühlvolle Hand zeigt, für die minder göttliche und mensch-
liche. Es fragt sich, ob die Verlängerung des Unterleibes, welche
Winckelmann (K. G. Bch. V. Kap. 4. §. 2.) als ein Merkmal
antiker Formenideale bezeichnet, nicht ebenfalls aus römischen
Standbildern entnommen ist.
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tiges Anzeichen der Individualitaͤt, oder, in ihrem Sinne, des
Nichtidealen *); ſo ſteht zu befuͤrchten, daß ihr Formenideal
nicht ſelten, wenn nicht gar durchhin eben nur aus ſolchen
Uebereinkoͤmmlichkeiten und Allgemeinheiten des Zuſchnitts **)

*) So nennt Winckelmann den einzigen ſeiner Idee ganz
entſprechenden Faun, den barberiniſchen, gegenwaͤrtig zu Muͤnchen,
eine der vornehmſten Zierden der unvergleichlichen Antikenſamm-
lung S. M. des Koͤnigs Ludewig von Bayern, an mehr als ei-
ner Stelle: eine Nachbildung der gemeinen Natur. Was
konnte ihn dazu veranlaſſen, wenn nicht etwa jener Lebenshauch,
den minder befangene Formen-Idealiſten, die neueren Herausg.
Winckelmanns (Anm. 203 zum Buch V. der K. G.) eben ſo
meiſterlich, als ſinnig geſchildert haben. „Wie er ermuͤdet, ſagen
ſie, der Ruhe hingegeben daliegt, wie alle Sehnen der Glieder los-
geſtrickt ſind, iſt unverbeſſerlich, ja unnachahmlich ausgedruͤckt.
Man glaubt ihn tief athmen zu hoͤren, zu ſehen, wie ihm der
Wein die Adern ſchwellt, die erregten Pulſe ſchlagen.“ — Doch
uͤbergehen ſie weislich, was daſſelbe Kunſtwerk als Darſtellung ſei-
ner Idee leiſtet. Es iſt ein Anderes, dem lebendigen, nothwendig
richtigen Sinne nachzugeben, ein Anderes, die Dinge in einen
im Voraus eingerichteten Zuſammenhang von Begriffen und Ge-
danken einzuzwaͤngen.
**) Was innerhalb eines gewiſſen Kreiſes fuͤr das aͤußere
Merkmal der Idealitaͤt gilt, kennen wir nunmehr aus den Bil-
dern zur neuen Ausg. der Werke Winckelmanns. Dieſelben Kf.
erklaͤrten in einem Programm der Jen. Lit. Z. von zween zuſam-
mengeordneten Figuren, die eine, welcher die ſchon beruͤhrten roͤ-
miſchen Proportionen in auffallendem Maße eigen ſind, eben wegen
jenes zwecklos allgemeinen Schnittes der Formen, den ich den
roͤmiſchen Werkſtaͤtten beizumeſſen geneigt bin, fuͤr die goͤttliche
und ideale; die ſchoͤnere hingegen, welche griechiſche Verhaͤltniſſe
und eine gefuͤhlvolle Hand zeigt, fuͤr die minder goͤttliche und menſch-
liche. Es fragt ſich, ob die Verlaͤngerung des Unterleibes, welche
Winckelmann (K. G. Bch. V. Kap. 4. §. 2.) als ein Merkmal
antiker Formenideale bezeichnet, nicht ebenfalls aus roͤmiſchen
Standbildern entnommen iſt.
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[115/0133] tiges Anzeichen der Individualitaͤt, oder, in ihrem Sinne, des Nichtidealen *); ſo ſteht zu befuͤrchten, daß ihr Formenideal nicht ſelten, wenn nicht gar durchhin eben nur aus ſolchen Uebereinkoͤmmlichkeiten und Allgemeinheiten des Zuſchnitts **) *) So nennt Winckelmann den einzigen ſeiner Idee ganz entſprechenden Faun, den barberiniſchen, gegenwaͤrtig zu Muͤnchen, eine der vornehmſten Zierden der unvergleichlichen Antikenſamm- lung S. M. des Koͤnigs Ludewig von Bayern, an mehr als ei- ner Stelle: eine Nachbildung der gemeinen Natur. Was konnte ihn dazu veranlaſſen, wenn nicht etwa jener Lebenshauch, den minder befangene Formen-Idealiſten, die neueren Herausg. Winckelmanns (Anm. 203 zum Buch V. der K. G.) eben ſo meiſterlich, als ſinnig geſchildert haben. „Wie er ermuͤdet, ſagen ſie, der Ruhe hingegeben daliegt, wie alle Sehnen der Glieder los- geſtrickt ſind, iſt unverbeſſerlich, ja unnachahmlich ausgedruͤckt. Man glaubt ihn tief athmen zu hoͤren, zu ſehen, wie ihm der Wein die Adern ſchwellt, die erregten Pulſe ſchlagen.“ — Doch uͤbergehen ſie weislich, was daſſelbe Kunſtwerk als Darſtellung ſei- ner Idee leiſtet. Es iſt ein Anderes, dem lebendigen, nothwendig richtigen Sinne nachzugeben, ein Anderes, die Dinge in einen im Voraus eingerichteten Zuſammenhang von Begriffen und Ge- danken einzuzwaͤngen. **) Was innerhalb eines gewiſſen Kreiſes fuͤr das aͤußere Merkmal der Idealitaͤt gilt, kennen wir nunmehr aus den Bil- dern zur neuen Ausg. der Werke Winckelmanns. Dieſelben Kf. erklaͤrten in einem Programm der Jen. Lit. Z. von zween zuſam- mengeordneten Figuren, die eine, welcher die ſchon beruͤhrten roͤ- miſchen Proportionen in auffallendem Maße eigen ſind, eben wegen jenes zwecklos allgemeinen Schnittes der Formen, den ich den roͤmiſchen Werkſtaͤtten beizumeſſen geneigt bin, fuͤr die goͤttliche und ideale; die ſchoͤnere hingegen, welche griechiſche Verhaͤltniſſe und eine gefuͤhlvolle Hand zeigt, fuͤr die minder goͤttliche und menſch- liche. Es fragt ſich, ob die Verlaͤngerung des Unterleibes, welche Winckelmann (K. G. Bch. V. Kap. 4. §. 2.) als ein Merkmal antiker Formenideale bezeichnet, nicht ebenfalls aus roͤmiſchen Standbildern entnommen iſt. 8 *

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Zitationshilfe: Rumohr, Karl Friedrich von: Italienische Forschungen. T. 1. Berlin u. a., 1827, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rumohr_forschungen01_1827/133>, abgerufen am 07.05.2024.