Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 1. Leipzig, 1836.Und kehrst du heim, eh hier erwacht der sel'ge Chor, Trag auf den Schwingen mit den Menschengeist empor. Doch Eines sag' ich dir, wenn es dir soll gelingen, Auf deinen Schwingen ihn zum Himmel herzubringen: Du mußt den Menschengeist mit Gottgeheimnis kirren, Doch ihn betäuben nicht, noch blenden und verwirren. Laß ihm die Täuschung selbst als klare Wahrheit sehn, Und was er nicht versteht, glaub' er doch zu verstehn. Die Räthsel magst du ihm in Räthseln selber deuten, Die unenträthselt auch sinnreich den Sinn erfreuten. Sei wie der Himmel klar und tief in dunkle Ferne: Lichtsterne beut dem Schaun, der Ahnung Nebelsterne! Und wenns sein Aug' erträgt, sei ihm der Blick gewährt, Der Nebelsterne selbst in Lichtgestirne klärt. Doch wie Unendlichkeit dort das Erhabn' umzirkt, Von schöner Endlichkeit sei dein Gebiet umwirkt. Im Unermeßlichen wirst du das Maaß verlieren; Das Kleine sollst du klein mit Kunst, nicht kleinlich, zieren. Und kehrſt du heim, eh hier erwacht der ſel'ge Chor, Trag auf den Schwingen mit den Menſchengeiſt empor. Doch Eines ſag' ich dir, wenn es dir ſoll gelingen, Auf deinen Schwingen ihn zum Himmel herzubringen: Du mußt den Menſchengeiſt mit Gottgeheimnis kirren, Doch ihn betaͤuben nicht, noch blenden und verwirren. Laß ihm die Taͤuſchung ſelbſt als klare Wahrheit ſehn, Und was er nicht verſteht, glaub' er doch zu verſtehn. Die Raͤthſel magſt du ihm in Raͤthſeln ſelber deuten, Die unentraͤthſelt auch ſinnreich den Sinn erfreuten. Sei wie der Himmel klar und tief in dunkle Ferne: Lichtſterne beut dem Schaun, der Ahnung Nebelſterne! Und wenns ſein Aug' ertraͤgt, ſei ihm der Blick gewaͤhrt, Der Nebelſterne ſelbſt in Lichtgeſtirne klaͤrt. Doch wie Unendlichkeit dort das Erhabn' umzirkt, Von ſchoͤner Endlichkeit ſei dein Gebiet umwirkt. Im Unermeßlichen wirſt du das Maaß verlieren; Das Kleine ſollſt du klein mit Kunſt, nicht kleinlich, zieren. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0057" n="47"/> <lg n="5"> <l>Und kehrſt du heim, eh hier erwacht der ſel'ge Chor,</l><lb/> <l>Trag auf den Schwingen mit den Menſchengeiſt empor.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Doch Eines ſag' ich dir, wenn es dir ſoll gelingen,</l><lb/> <l>Auf deinen Schwingen ihn zum Himmel herzubringen:</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Du mußt den Menſchengeiſt mit Gottgeheimnis kirren,</l><lb/> <l>Doch ihn betaͤuben nicht, noch blenden und verwirren.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Laß ihm die Taͤuſchung ſelbſt als klare Wahrheit ſehn,</l><lb/> <l>Und was er nicht verſteht, glaub' er doch zu verſtehn.</l> </lg><lb/> <lg n="9"> <l>Die Raͤthſel magſt du ihm in Raͤthſeln ſelber deuten,</l><lb/> <l>Die unentraͤthſelt auch ſinnreich den Sinn erfreuten.</l> </lg><lb/> <lg n="10"> <l>Sei wie der Himmel klar und tief in dunkle Ferne:</l><lb/> <l>Lichtſterne beut dem Schaun, der Ahnung Nebelſterne!</l> </lg><lb/> <lg n="11"> <l>Und wenns ſein Aug' ertraͤgt, ſei ihm der Blick gewaͤhrt,</l><lb/> <l>Der Nebelſterne ſelbſt in Lichtgeſtirne klaͤrt.</l> </lg><lb/> <lg n="12"> <l>Doch wie Unendlichkeit dort das Erhabn' umzirkt,</l><lb/> <l>Von ſchoͤner Endlichkeit ſei dein Gebiet umwirkt.</l> </lg><lb/> <lg n="13"> <l>Im Unermeßlichen wirſt du das Maaß verlieren;</l><lb/> <l>Das Kleine ſollſt du klein mit Kunſt, nicht kleinlich, zieren.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0057]
Und kehrſt du heim, eh hier erwacht der ſel'ge Chor,
Trag auf den Schwingen mit den Menſchengeiſt empor.
Doch Eines ſag' ich dir, wenn es dir ſoll gelingen,
Auf deinen Schwingen ihn zum Himmel herzubringen:
Du mußt den Menſchengeiſt mit Gottgeheimnis kirren,
Doch ihn betaͤuben nicht, noch blenden und verwirren.
Laß ihm die Taͤuſchung ſelbſt als klare Wahrheit ſehn,
Und was er nicht verſteht, glaub' er doch zu verſtehn.
Die Raͤthſel magſt du ihm in Raͤthſeln ſelber deuten,
Die unentraͤthſelt auch ſinnreich den Sinn erfreuten.
Sei wie der Himmel klar und tief in dunkle Ferne:
Lichtſterne beut dem Schaun, der Ahnung Nebelſterne!
Und wenns ſein Aug' ertraͤgt, ſei ihm der Blick gewaͤhrt,
Der Nebelſterne ſelbſt in Lichtgeſtirne klaͤrt.
Doch wie Unendlichkeit dort das Erhabn' umzirkt,
Von ſchoͤner Endlichkeit ſei dein Gebiet umwirkt.
Im Unermeßlichen wirſt du das Maaß verlieren;
Das Kleine ſollſt du klein mit Kunſt, nicht kleinlich, zieren.
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Zitationshilfe: | Rückert, Friedrich: Die Weisheit des Brahmanen. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rueckert_brahmane01_1836/57>, abgerufen am 25.07.2024. |