Morgen darauf zeigte ich ihr Bilder. Es waren auf dem Blatte Schmetterlinge abgebildet; auch ein ganz blauer. Seraphine nannte ihn gelb. Alle übrigen Farben benannte sie richtig. Es frap- pirte mich; aber ich sagte ganz ruhig, der Schmet- terling ist blau, liebe Seraphine. Sie aber wie- derholte: er ist gelb. Jch schlug das Blatt schwei- gend um, und nahm ein anderes vor. Es waren Tauben darauf, und die eine wieder blau. Ohne daß ich fragte, wies sie zuerst auf die blaue Tau- be: die ist roth. Jch antwortete, (weil ich das für Eigensinn nahm) wenn die Taube roth ist, so legen wir das Buch weg, und sehen keine Bil- der mehr. Nein, sie ist gelb, rief das Kind wei- nend. Jch schwieg und spielte freundlich etwas anderes mit ihr; denn nun war ich völlig unge- wiß, wofür ich das halten sollte.
Dies Grillchen, wenn es eines war, und nicht vielmehr augenblickliche Verwirrung, ist nun ver- gessen. Sie nennt das Blaue von selbst wieder blau. Aber so wie sie vor einigen Wochen das Blaue aus den Farben auszumerzen schien, so hat
Morgen darauf zeigte ich ihr Bilder. Es waren auf dem Blatte Schmetterlinge abgebildet; auch ein ganz blauer. Seraphine nannte ihn gelb. Alle übrigen Farben benannte ſie richtig. Es frap- pirte mich; aber ich ſagte ganz ruhig, der Schmet- terling iſt blau, liebe Seraphine. Sie aber wie- derholte: er iſt gelb. Jch ſchlug das Blatt ſchwei- gend um, und nahm ein anderes vor. Es waren Tauben darauf, und die eine wieder blau. Ohne daß ich fragte, wies ſie zuerſt auf die blaue Tau- be: die iſt roth. Jch antwortete, (weil ich das für Eigenſinn nahm) wenn die Taube roth iſt, ſo legen wir das Buch weg, und ſehen keine Bil- der mehr. Nein, ſie iſt gelb, rief das Kind wei- nend. Jch ſchwieg und ſpielte freundlich etwas anderes mit ihr; denn nun war ich völlig unge- wiß, wofür ich das halten ſollte.
Dies Grillchen, wenn es eines war, und nicht vielmehr augenblickliche Verwirrung, iſt nun ver- geſſen. Sie nennt das Blaue von ſelbſt wieder blau. Aber ſo wie ſie vor einigen Wochen das Blaue aus den Farben auszumerzen ſchien, ſo hat
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Morgen darauf zeigte ich ihr Bilder. Es waren
auf dem Blatte Schmetterlinge abgebildet; auch
ein ganz blauer. Seraphine nannte ihn gelb.
Alle übrigen Farben benannte ſie richtig. Es frap-
pirte mich; aber ich ſagte ganz ruhig, der Schmet-
terling iſt blau, liebe Seraphine. Sie aber wie-
derholte: er iſt gelb. Jch ſchlug das Blatt ſchwei-
gend um, und nahm ein anderes vor. Es waren
Tauben darauf, und die eine wieder blau. Ohne
daß ich fragte, wies ſie zuerſt auf die blaue Tau-
be: die iſt roth. Jch antwortete, (weil ich das
für Eigenſinn nahm) wenn die Taube roth iſt,
ſo legen wir das Buch weg, und ſehen keine Bil-
der mehr. Nein, ſie iſt gelb, rief das Kind wei-
nend. Jch ſchwieg und ſpielte freundlich etwas
anderes mit ihr; denn nun war ich völlig unge-
wiß, wofür ich das halten ſollte.
Dies Grillchen, wenn es eines war, und nicht
vielmehr augenblickliche Verwirrung, iſt nun ver-
geſſen. Sie nennt das Blaue von ſelbſt wieder
blau. Aber ſo wie ſie vor einigen Wochen das
Blaue aus den Farben auszumerzen ſchien, ſo hat
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/254>, abgerufen am 16.02.2025.
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