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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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unart beständig zur Hand hält. Jch hörte das
kleine Evchen schreien, und immer dazwischen ru-
fen, daß sie geschickt seyn wolle. Jch gieng mit
Seraphine hinzu. Seraphine sah solchen Akt der
Zucht zum erstenmale, sie fragte: warum schlägt
die Mutter Evchen? Jch antwortete kalt und ohne
Anwendung auf sie: weil Evchen immer schreit,
und weil das sehr garstig ist. "Seraphine will
nicht mehr schreien, süße Mutter!" Und sie schreit
seitdem wirklich nicht mehr, sondern weint still in
einem Eckchen, wenn ihr etwas durch den Sinn
fährt, oder kommt, sich anschmiegend, zu mir
mit jedem kleinen Wehe, es mir zu klagen.

Kleine Unergründlichkeiten mancher Art finde
ich immer noch in dem Kinde. So z. B. (Se-
raphine hat nemlich ungemeine Lust an bunten
Farben, und beschäftigt sich gerne damit, sie zu
unterscheiden) vor einigen Wochen hatte ich ein
blaues Kleid an, und das Kind auch. Seraphine
bemerkte es zuerst, freute sich laut darüber, und
wiederholte oft: Mutter ein blaues Kleid an hat,
und Seraphine ein blaues Kleid an hat. -- Den



unart beſtändig zur Hand hält. Jch hörte das
kleine Evchen ſchreien, und immer dazwiſchen ru-
fen, daß ſie geſchickt ſeyn wolle. Jch gieng mit
Seraphine hinzu. Seraphine ſah ſolchen Akt der
Zucht zum erſtenmale, ſie fragte: warum ſchlägt
die Mutter Evchen? Jch antwortete kalt und ohne
Anwendung auf ſie: weil Evchen immer ſchreit,
und weil das ſehr garſtig iſt. „Seraphine will
nicht mehr ſchreien, ſüße Mutter!‟ Und ſie ſchreit
ſeitdem wirklich nicht mehr, ſondern weint ſtill in
einem Eckchen, wenn ihr etwas durch den Sinn
fährt, oder kommt, ſich anſchmiegend, zu mir
mit jedem kleinen Wehe, es mir zu klagen.

Kleine Unergründlichkeiten mancher Art finde
ich immer noch in dem Kinde. So z. B. (Se-
raphine hat nemlich ungemeine Luſt an bunten
Farben, und beſchäftigt ſich gerne damit, ſie zu
unterſcheiden) vor einigen Wochen hatte ich ein
blaues Kleid an, und das Kind auch. Seraphine
bemerkte es zuerſt, freute ſich laut darüber, und
wiederholte oft: Mutter ein blaues Kleid an hat,
und Seraphine ein blaues Kleid an hat. — Den

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[245/0253] unart beſtändig zur Hand hält. Jch hörte das kleine Evchen ſchreien, und immer dazwiſchen ru- fen, daß ſie geſchickt ſeyn wolle. Jch gieng mit Seraphine hinzu. Seraphine ſah ſolchen Akt der Zucht zum erſtenmale, ſie fragte: warum ſchlägt die Mutter Evchen? Jch antwortete kalt und ohne Anwendung auf ſie: weil Evchen immer ſchreit, und weil das ſehr garſtig iſt. „Seraphine will nicht mehr ſchreien, ſüße Mutter!‟ Und ſie ſchreit ſeitdem wirklich nicht mehr, ſondern weint ſtill in einem Eckchen, wenn ihr etwas durch den Sinn fährt, oder kommt, ſich anſchmiegend, zu mir mit jedem kleinen Wehe, es mir zu klagen. Kleine Unergründlichkeiten mancher Art finde ich immer noch in dem Kinde. So z. B. (Se- raphine hat nemlich ungemeine Luſt an bunten Farben, und beſchäftigt ſich gerne damit, ſie zu unterſcheiden) vor einigen Wochen hatte ich ein blaues Kleid an, und das Kind auch. Seraphine bemerkte es zuerſt, freute ſich laut darüber, und wiederholte oft: Mutter ein blaues Kleid an hat, und Seraphine ein blaues Kleid an hat. — Den

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/253>, abgerufen am 03.05.2024.