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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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lügen dürfte, dann hätte ich keinem Menschen
etwas von meinem Vorhaben gesagt, hätte mich
krank gesagt, mir aber doch hier zu essen ausgebe-
ten, und alles heimlich durch die Lisel hingeschickt
zur armen Frau. Jch hätte dann auch um Wein
gebeten, und der wäre gewiß der Genesenden be-
sonders gut bekommen. Jch habe diese Nacht viel
darüber nachgesonnen, ob man in einem solchen
Falle wohl lügen dürfte, ich habe aber nicht mit
mir darüber fertig werden können, und da kam es
endlich zu dem Vorsatze, Dir alles zu sagen. Jch.
Deine Jdee ist schön und löblich, gutes Kind, aber
ich kann sie doch nicht ganz gut heißen. Ein 3tägi-
ges Fasten ist für einen Körper, der nicht daran
gewöhnt ist, eine allzuharte Probe. Fürs erste
muß ich Dir rathen, es mit einem Tage zu versu-
chen, und selbst an diesem Tage noch ein wenig
Brot und Wasser zu genießen. Willst Du diese
Uebung im Entbehren wiederholen, so thue es ein
andermal. M. Aber wie soll ich es denn nun vor
den andern machen? darf man in diesem Falle lü-
gen? Jch. Nein, Mathilde, das darf man nicht,
wie schön auch die Absicht seyn möge. M. Was ist

lügen dürfte, dann hätte ich keinem Menſchen
etwas von meinem Vorhaben geſagt, hätte mich
krank geſagt, mir aber doch hier zu eſſen ausgebe-
ten, und alles heimlich durch die Liſel hingeſchickt
zur armen Frau. Jch hätte dann auch um Wein
gebeten, und der wäre gewiß der Geneſenden be-
ſonders gut bekommen. Jch habe dieſe Nacht viel
darüber nachgeſonnen, ob man in einem ſolchen
Falle wohl lügen dürfte, ich habe aber nicht mit
mir darüber fertig werden können, und da kam es
endlich zu dem Vorſatze, Dir alles zu ſagen. Jch.
Deine Jdee iſt ſchön und löblich, gutes Kind, aber
ich kann ſie doch nicht ganz gut heißen. Ein 3tägi-
ges Faſten iſt für einen Körper, der nicht daran
gewöhnt iſt, eine allzuharte Probe. Fürs erſte
muß ich Dir rathen, es mit einem Tage zu verſu-
chen, und ſelbſt an dieſem Tage noch ein wenig
Brot und Waſſer zu genießen. Willſt Du dieſe
Uebung im Entbehren wiederholen, ſo thue es ein
andermal. M. Aber wie ſoll ich es denn nun vor
den andern machen? darf man in dieſem Falle lü-
gen? Jch. Nein, Mathilde, das darf man nicht,
wie ſchön auch die Abſicht ſeyn möge. M. Was iſt

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[188/0196] lügen dürfte, dann hätte ich keinem Menſchen etwas von meinem Vorhaben geſagt, hätte mich krank geſagt, mir aber doch hier zu eſſen ausgebe- ten, und alles heimlich durch die Liſel hingeſchickt zur armen Frau. Jch hätte dann auch um Wein gebeten, und der wäre gewiß der Geneſenden be- ſonders gut bekommen. Jch habe dieſe Nacht viel darüber nachgeſonnen, ob man in einem ſolchen Falle wohl lügen dürfte, ich habe aber nicht mit mir darüber fertig werden können, und da kam es endlich zu dem Vorſatze, Dir alles zu ſagen. Jch. Deine Jdee iſt ſchön und löblich, gutes Kind, aber ich kann ſie doch nicht ganz gut heißen. Ein 3tägi- ges Faſten iſt für einen Körper, der nicht daran gewöhnt iſt, eine allzuharte Probe. Fürs erſte muß ich Dir rathen, es mit einem Tage zu verſu- chen, und ſelbſt an dieſem Tage noch ein wenig Brot und Waſſer zu genießen. Willſt Du dieſe Uebung im Entbehren wiederholen, ſo thue es ein andermal. M. Aber wie ſoll ich es denn nun vor den andern machen? darf man in dieſem Falle lü- gen? Jch. Nein, Mathilde, das darf man nicht, wie ſchön auch die Abſicht ſeyn möge. M. Was iſt

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/196>, abgerufen am 24.11.2024.