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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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Hertha, warum soll ich allein frei ausgehen? Hast
Du in Deinem Köcher keinen einzigen Pfeil für
mich? -- Da maß sie mich mit einem schelmisch
verstohlnen Blick und schwieg." "Hast Du denn
auf meiner Nasenspitze nie eine immer wiederkeh-
rende Fliege gesehen, die ich ungestüm und ver-
geblich wegjagte, und sonst so etwas? Warum
verschonst Du mich immer?" Endlich sagte sie: ja,
Tante Selma, wenn Du über Hertha so unge-
duldig geworden wärest als gewiße ehrbare Leute
über Fliegen und Mücken werden können, dann
hätte ich auch um Dich herumsummen und über
Dich lachen müssen, wenns Dich geprickelt hätte.
Aber Du bliebst immer so freundlich, und Dein
Ernst ist mir niemals komisch vorgekommen. Dich
zu necken würde mir gottlos dünken. Wag' ich
es doch bei Jda fast nicht mehr. Aber sieh' nur
den Bruno an, muß man sich ihn nicht immer mit
dem langen Philosophenbart denken, wenn er so
gravitätisch thut? O was gäbe ich darum, ihn
nur ein einzigmal als Rathsherrn mit einer großen
Perücke zu sehen, wie er sein weises Haupt auf einer
weißen Schüssel von Kragen zu Rathe trägt." So

Hertha, warum ſoll ich allein frei ausgehen? Haſt
Du in Deinem Köcher keinen einzigen Pfeil für
mich? — Da maß ſie mich mit einem ſchelmiſch
verſtohlnen Blick und ſchwieg.‟ „Haſt Du denn
auf meiner Naſenſpitze nie eine immer wiederkeh-
rende Fliege geſehen, die ich ungeſtüm und ver-
geblich wegjagte, und ſonſt ſo etwas? Warum
verſchonſt Du mich immer?‟ Endlich ſagte ſie: ja,
Tante Selma, wenn Du über Hertha ſo unge-
duldig geworden wäreſt als gewiße ehrbare Leute
über Fliegen und Mücken werden können, dann
hätte ich auch um Dich herumſummen und über
Dich lachen müſſen, wenns Dich geprickelt hätte.
Aber Du bliebſt immer ſo freundlich, und Dein
Ernſt iſt mir niemals komiſch vorgekommen. Dich
zu necken würde mir gottlos dünken. Wag’ ich
es doch bei Jda faſt nicht mehr. Aber ſieh’ nur
den Bruno an, muß man ſich ihn nicht immer mit
dem langen Philoſophenbart denken, wenn er ſo
gravitätiſch thut? O was gäbe ich darum, ihn
nur ein einzigmal als Rathsherrn mit einer großen
Perücke zu ſehen, wie er ſein weiſes Haupt auf einer
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[155/0163] Hertha, warum ſoll ich allein frei ausgehen? Haſt Du in Deinem Köcher keinen einzigen Pfeil für mich? — Da maß ſie mich mit einem ſchelmiſch verſtohlnen Blick und ſchwieg.‟ „Haſt Du denn auf meiner Naſenſpitze nie eine immer wiederkeh- rende Fliege geſehen, die ich ungeſtüm und ver- geblich wegjagte, und ſonſt ſo etwas? Warum verſchonſt Du mich immer?‟ Endlich ſagte ſie: ja, Tante Selma, wenn Du über Hertha ſo unge- duldig geworden wäreſt als gewiße ehrbare Leute über Fliegen und Mücken werden können, dann hätte ich auch um Dich herumſummen und über Dich lachen müſſen, wenns Dich geprickelt hätte. Aber Du bliebſt immer ſo freundlich, und Dein Ernſt iſt mir niemals komiſch vorgekommen. Dich zu necken würde mir gottlos dünken. Wag’ ich es doch bei Jda faſt nicht mehr. Aber ſieh’ nur den Bruno an, muß man ſich ihn nicht immer mit dem langen Philoſophenbart denken, wenn er ſo gravitätiſch thut? O was gäbe ich darum, ihn nur ein einzigmal als Rathsherrn mit einer großen Perücke zu ſehen, wie er ſein weiſes Haupt auf einer weißen Schüſſel von Kragen zu Rathe trägt.‟ So

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/163>, abgerufen am 21.11.2024.