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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807.

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höchlich freuen. Doch scheint ihr Talent zum
Zeichnen noch entschiedener. Wie allerliebste
Blumenzeichnungen sie macht, davon hast Du
Proben gesehen: ich meynte, sie würde dabei
stehen bleiben. An meinem letzten Geburtstage
hat sie mich durch ein Angebinde überrascht,
das mir den größern Umfang ihres Talentes
hinlänglich beweiset. -- Du erinnerst dich gewiß
der schönen freien Handzeichnung der Madonna
mit dem Kinde auf dem Schooße, das ihr so
sehnlich verlangend in das himmlische Auge sieht,
und das von der seligen Mutter mit namenlosem
Ausdruck angeschaut wird. -- Dieses Bildes,
das seit einigen Monaten nicht aufgehängt war,
hat sie sich zu bemächtigen gewußt, und ist jeden
Morgen ein Paar Stunden früher aufgestanden
als ich und die andern alle, und so hat sie uns
allen unbemerkt die Zeichnung desselben vollen-
det, nachdem sie zuvor die einzelnen Theile des
Gesichts nach einem Studienbuche mit anhalten-
der Geduld geübt, darauf einige leichte Köpfe
gezeichnet und endlich sich an dies Werk gemacht.
Es ist ein wohl gelungner Versuch. Gleich am

höchlich freuen. Doch ſcheint ihr Talent zum
Zeichnen noch entſchiedener. Wie allerliebſte
Blumenzeichnungen ſie macht, davon haſt Du
Proben geſehen: ich meynte, ſie würde dabei
ſtehen bleiben. An meinem letzten Geburtstage
hat ſie mich durch ein Angebinde überraſcht,
das mir den größern Umfang ihres Talentes
hinlänglich beweiſet. — Du erinnerſt dich gewiß
der ſchönen freien Handzeichnung der Madonna
mit dem Kinde auf dem Schooße, das ihr ſo
ſehnlich verlangend in das himmliſche Auge ſieht,
und das von der ſeligen Mutter mit namenloſem
Ausdruck angeſchaut wird. — Dieſes Bildes,
das ſeit einigen Monaten nicht aufgehängt war,
hat ſie ſich zu bemächtigen gewußt, und iſt jeden
Morgen ein Paar Stunden früher aufgeſtanden
als ich und die andern alle, und ſo hat ſie uns
allen unbemerkt die Zeichnung deſſelben vollen-
det, nachdem ſie zuvor die einzelnen Theile des
Geſichts nach einem Studienbuche mit anhalten-
der Geduld geübt, darauf einige leichte Köpfe
gezeichnet und endlich ſich an dies Werk gemacht.
Es iſt ein wohl gelungner Verſuch. Gleich am

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[151/0159] höchlich freuen. Doch ſcheint ihr Talent zum Zeichnen noch entſchiedener. Wie allerliebſte Blumenzeichnungen ſie macht, davon haſt Du Proben geſehen: ich meynte, ſie würde dabei ſtehen bleiben. An meinem letzten Geburtstage hat ſie mich durch ein Angebinde überraſcht, das mir den größern Umfang ihres Talentes hinlänglich beweiſet. — Du erinnerſt dich gewiß der ſchönen freien Handzeichnung der Madonna mit dem Kinde auf dem Schooße, das ihr ſo ſehnlich verlangend in das himmliſche Auge ſieht, und das von der ſeligen Mutter mit namenloſem Ausdruck angeſchaut wird. — Dieſes Bildes, das ſeit einigen Monaten nicht aufgehängt war, hat ſie ſich zu bemächtigen gewußt, und iſt jeden Morgen ein Paar Stunden früher aufgeſtanden als ich und die andern alle, und ſo hat ſie uns allen unbemerkt die Zeichnung deſſelben vollen- det, nachdem ſie zuvor die einzelnen Theile des Geſichts nach einem Studienbuche mit anhalten- der Geduld geübt, darauf einige leichte Köpfe gezeichnet und endlich ſich an dies Werk gemacht. Es iſt ein wohl gelungner Verſuch. Gleich am

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 2. Heidelberg, 1807, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung02_1807/159>, abgerufen am 07.05.2024.