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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

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Drei und dreisigster Brief.

Von einer unserer Uebungsstunden sprach ich
Dir bis jetzt noch nicht. Sie heißt bei den Kindern
die poetische Stunde, und wird wöchentlich ein-
mal, auch mehrmal gehalten, nachdem ich mich
dazu gestimmt fühle. Die Stunde beginnt da-
mit, daß jedes der Kinder ein selbstgewähltes
auswendig gelerntes Lied oder eine Fabel hersagt,
welches ihnen zuvor, wo sie es nicht verstanden,
erklärt worden. Dann lese oder spreche ich es ihnen
vor, und helfe dem Mangel der Declamation ab,
d. h. ich gebe ihnen die richtigere an, wo die
Kinder sie verfehlt; doch declamire ich mit äußer-
ster Mäßigung des Affekts, damit sie ja keinen
Ausdruck einstudieren, der über die Wahrheit des
Eindrucks hinaus gehet, den das Gedicht auf sie
gemacht haben kann. Getadelt wird keins, und
wenn es auch, wie Clärchen, noch so fehlerhaft
declamirte, und fast nur Rythmus und Reim hören
ließe. Getadelt wird weder zu schwacher noch zu
starker Ausdruck; nur durch Vorlesen wird es kor-
rigirt: und so bleiben sie immer bey froher Laune
in dieser Stunde. Clärchen, die allzufest am

Drei und dreiſigſter Brief.

Von einer unſerer Uebungsſtunden ſprach ich
Dir bis jetzt noch nicht. Sie heißt bei den Kindern
die poetiſche Stunde, und wird wöchentlich ein-
mal, auch mehrmal gehalten, nachdem ich mich
dazu geſtimmt fühle. Die Stunde beginnt da-
mit, daß jedes der Kinder ein ſelbſtgewähltes
auswendig gelerntes Lied oder eine Fabel herſagt,
welches ihnen zuvor, wo ſie es nicht verſtanden,
erklärt worden. Dann leſe oder ſpreche ich es ihnen
vor, und helfe dem Mangel der Declamation ab,
d. h. ich gebe ihnen die richtigere an, wo die
Kinder ſie verfehlt; doch declamire ich mit äußer-
ſter Mäßigung des Affekts, damit ſie ja keinen
Ausdruck einſtudieren, der über die Wahrheit des
Eindrucks hinaus gehet, den das Gedicht auf ſie
gemacht haben kann. Getadelt wird keins, und
wenn es auch, wie Clärchen, noch ſo fehlerhaft
declamirte, und faſt nur Rythmus und Reim hören
ließe. Getadelt wird weder zu ſchwacher noch zu
ſtarker Ausdruck; nur durch Vorleſen wird es kor-
rigirt: und ſo bleiben ſie immer bey froher Laune
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[282/0296] Drei und dreiſigſter Brief. Von einer unſerer Uebungsſtunden ſprach ich Dir bis jetzt noch nicht. Sie heißt bei den Kindern die poetiſche Stunde, und wird wöchentlich ein- mal, auch mehrmal gehalten, nachdem ich mich dazu geſtimmt fühle. Die Stunde beginnt da- mit, daß jedes der Kinder ein ſelbſtgewähltes auswendig gelerntes Lied oder eine Fabel herſagt, welches ihnen zuvor, wo ſie es nicht verſtanden, erklärt worden. Dann leſe oder ſpreche ich es ihnen vor, und helfe dem Mangel der Declamation ab, d. h. ich gebe ihnen die richtigere an, wo die Kinder ſie verfehlt; doch declamire ich mit äußer- ſter Mäßigung des Affekts, damit ſie ja keinen Ausdruck einſtudieren, der über die Wahrheit des Eindrucks hinaus gehet, den das Gedicht auf ſie gemacht haben kann. Getadelt wird keins, und wenn es auch, wie Clärchen, noch ſo fehlerhaft declamirte, und faſt nur Rythmus und Reim hören ließe. Getadelt wird weder zu ſchwacher noch zu ſtarker Ausdruck; nur durch Vorleſen wird es kor- rigirt: und ſo bleiben ſie immer bey froher Laune in dieſer Stunde. Clärchen, die allzufeſt am

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Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/296>, abgerufen am 22.11.2024.