Jch. Du, mein Kind. Du erzähltest, der Vater habe dir gesagt, du solltest vernünf- tig seyn. Glaubtest du das bloß, weil es der Vater sagte? oder --
Cl. Nein, ich fühlte selbst, daß ich sollte, und daß jeder Mensch vernünftig seyn soll.
Jch. Warum sagt man aber nicht, der Mensch muß vernünftig seyn? Warum heißt es, er soll?
Cl. Ja, es -- o wie sagtest du noch, beste Tante? Jch habe das Wort so gut begriffen, und es doch wieder verloren.
Jch. Die Nothwen --
Cl. Die Nothwendigkeit treibt uns ja nicht zum Vernünftigseyn, wie zum Athemholen.
Jch. Und wie dich, Clärchen, zum Weinen, wenn du betrübt bist, zum Lachen, wenn du et- was Komisches siehst oder hörst, und Jda zum Schlafen, wenn sie völlig müde ist. Aber was fodert uns denn auf zum Vernünftigseyn, wenn
Cl. Jch, liebe Tante? das weiß ich nicht mehr.
Jch. Du, mein Kind. Du erzählteſt, der Vater habe dir geſagt, du ſollteſt vernünf- tig ſeyn. Glaubteſt du das bloß, weil es der Vater ſagte? oder —
Cl. Nein, ich fühlte ſelbſt, daß ich ſollte, und daß jeder Menſch vernünftig ſeyn ſoll.
Jch. Warum ſagt man aber nicht, der Menſch muß vernünftig ſeyn? Warum heißt es, er ſoll?
Cl. Ja, es — o wie ſagteſt du noch, beſte Tante? Jch habe das Wort ſo gut begriffen, und es doch wieder verloren.
Jch. Die Nothwen —
Cl. Die Nothwendigkeit treibt uns ja nicht zum Vernünftigſeyn, wie zum Athemholen.
Jch. Und wie dich, Clärchen, zum Weinen, wenn du betrübt biſt, zum Lachen, wenn du et- was Komiſches ſiehſt oder hörſt, und Jda zum Schlafen, wenn ſie völlig müde iſt. Aber was fodert uns denn auf zum Vernünftigſeyn, wenn
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Cl. Jch, liebe Tante? das weiß ich nicht mehr.
Jch. Du, mein Kind. Du erzählteſt, der
Vater habe dir geſagt, du ſollteſt vernünf-
tig ſeyn. Glaubteſt du das bloß, weil es der
Vater ſagte? oder —
Cl. Nein, ich fühlte ſelbſt, daß ich ſollte, und
daß jeder Menſch vernünftig ſeyn ſoll.
Jch. Warum ſagt man aber nicht, der Menſch
muß vernünftig ſeyn? Warum heißt es, er ſoll?
Cl. Ja, es — o wie ſagteſt du noch, beſte
Tante? Jch habe das Wort ſo gut begriffen, und
es doch wieder verloren.
Jch. Die Nothwen —
Cl. Die Nothwendigkeit treibt uns ja nicht
zum Vernünftigſeyn, wie zum Athemholen.
Jch. Und wie dich, Clärchen, zum Weinen,
wenn du betrübt biſt, zum Lachen, wenn du et-
was Komiſches ſiehſt oder hörſt, und Jda zum
Schlafen, wenn ſie völlig müde iſt. Aber was
fodert uns denn auf zum Vernünftigſeyn, wenn
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/261>, abgerufen am 16.02.2025.
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