Mathilde. Sie strickte sehr langsam, und ließ mich zusehen, daß ich es begreifen konnte, wie sie eine Masche nach der andern durchzog, ei- ne Nadel nach der andern abstrickte, und wie ei- ne Tour nach der andern herumkam; auch machte sie ein Zeichen, wo sie angefangen, so, daß ich sehen konnte, wie die Arbeit zunahm. Dann ließ sie mich versuchen, die Maschen durchzuziehen, die sie aufgestochen, dann strickte sie eine Masche und ich eine, sie eine Nadel und ich eine; sie ei- ne Tour und ich eine. So übte sie mich eine Zeit- lang, bis ichs konnte. Und nun begreife ich es wieder nicht, wie es mir hat schwer werden können.
Jch. Jhr beide habt bei diesem Lernen zweier- lei bemerkt, wovon ihr die Jdee des Lernens fassen und festhalten könnt.
Jda. Tante, darf ich es jetzt sagen, was Lernen heißt? Bitte, laß mich es sagen.
Jch. Nun Kind?
Jda. Es heißt, eine Sache, die wir erst nicht verstanden, so lange aufmerksam anzuschauen und
Mathilde. Sie ſtrickte ſehr langſam, und ließ mich zuſehen, daß ich es begreifen konnte, wie ſie eine Maſche nach der andern durchzog, ei- ne Nadel nach der andern abſtrickte, und wie ei- ne Tour nach der andern herumkam; auch machte ſie ein Zeichen, wo ſie angefangen, ſo, daß ich ſehen konnte, wie die Arbeit zunahm. Dann ließ ſie mich verſuchen, die Maſchen durchzuziehen, die ſie aufgeſtochen, dann ſtrickte ſie eine Maſche und ich eine, ſie eine Nadel und ich eine; ſie ei- ne Tour und ich eine. So übte ſie mich eine Zeit- lang, bis ichs konnte. Und nun begreife ich es wieder nicht, wie es mir hat ſchwer werden können.
Jch. Jhr beide habt bei dieſem Lernen zweier- lei bemerkt, wovon ihr die Jdee des Lernens faſſen und feſthalten könnt.
Jda. Tante, darf ich es jetzt ſagen, was Lernen heißt? Bitte, laß mich es ſagen.
Jch. Nun Kind?
Jda. Es heißt, eine Sache, die wir erſt nicht verſtanden, ſo lange aufmerkſam anzuſchauen und
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Mathilde. Sie ſtrickte ſehr langſam, und
ließ mich zuſehen, daß ich es begreifen konnte,
wie ſie eine Maſche nach der andern durchzog, ei-
ne Nadel nach der andern abſtrickte, und wie ei-
ne Tour nach der andern herumkam; auch machte
ſie ein Zeichen, wo ſie angefangen, ſo, daß ich
ſehen konnte, wie die Arbeit zunahm. Dann
ließ ſie mich verſuchen, die Maſchen durchzuziehen,
die ſie aufgeſtochen, dann ſtrickte ſie eine Maſche
und ich eine, ſie eine Nadel und ich eine; ſie ei-
ne Tour und ich eine. So übte ſie mich eine Zeit-
lang, bis ichs konnte. Und nun begreife ich es
wieder nicht, wie es mir hat ſchwer werden können.
Jch. Jhr beide habt bei dieſem Lernen zweier-
lei bemerkt, wovon ihr die Jdee des Lernens faſſen
und feſthalten könnt.
Jda. Tante, darf ich es jetzt ſagen, was
Lernen heißt? Bitte, laß mich es ſagen.
Jch. Nun Kind?
Jda. Es heißt, eine Sache, die wir erſt nicht
verſtanden, ſo lange aufmerkſam anzuſchauen und
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/256>, abgerufen am 22.11.2024.
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