Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Die beiden Kinder saßen sehr traulich in einem
Fensterbänkchen. Jch sah, daß sie viel nach mir
hinsahen, als ob sie etwas auf dem Herzen hät-
ten. Mathilde stand zuerst auf, trat zu mir, und
sagte: "Tante, wir Beide haben dich etwas zu
fragen."

Jch. Was denn, Kinder? Setzt euch näher zu
mir, und laßt mich hören.

Mathilde. Hast du uns nicht gesagt, jeder
Mensch, der nur recht wollte, könne immer ver-
ständig und gut seyn? Jeder Mensch, ohne Aus-
nahme?

Jch. Jeder, der recht von Herzen will, kann
gut seyn, das habe ich gesagt, und so ist es. Kein
Mensch ist je in der Nothwendigkeit, schlecht zu
seyn.

Jda. Warum ist denn nun Paul nicht gut?
Hat der nicht recht von ganzem Herzen gewollt?
O! ich kann das gar nicht begreifen.

Jch. Paul ist nicht böse. Die schlimme Ge-
wohnheit ist nur stärker, als er, und hat ihn, Gott
weiß, wie? einmal wieder überrascht.

Die beiden Kinder ſaßen ſehr traulich in einem
Fenſterbänkchen. Jch ſah, daß ſie viel nach mir
hinſahen, als ob ſie etwas auf dem Herzen hät-
ten. Mathilde ſtand zuerſt auf, trat zu mir, und
ſagte: „Tante, wir Beide haben dich etwas zu
fragen.‟

Jch. Was denn, Kinder? Setzt euch näher zu
mir, und laßt mich hören.

Mathilde. Haſt du uns nicht geſagt, jeder
Menſch, der nur recht wollte, könne immer ver-
ſtändig und gut ſeyn? Jeder Menſch, ohne Aus-
nahme?

Jch. Jeder, der recht von Herzen will, kann
gut ſeyn, das habe ich geſagt, und ſo iſt es. Kein
Menſch iſt je in der Nothwendigkeit, ſchlecht zu
ſeyn.

Jda. Warum iſt denn nun Paul nicht gut?
Hat der nicht recht von ganzem Herzen gewollt?
O! ich kann das gar nicht begreifen.

Jch. Paul iſt nicht böſe. Die ſchlimme Ge-
wohnheit iſt nur ſtärker, als er, und hat ihn, Gott
weiß, wie? einmal wieder überraſcht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0238" n="224"/>
          <p>Die beiden Kinder &#x017F;aßen &#x017F;ehr traulich in einem<lb/>
Fen&#x017F;terbänkchen. Jch &#x017F;ah, daß &#x017F;ie viel nach mir<lb/>
hin&#x017F;ahen, als ob &#x017F;ie etwas auf dem Herzen hät-<lb/>
ten. Mathilde &#x017F;tand zuer&#x017F;t auf, trat zu mir, und<lb/>
&#x017F;agte: &#x201E;Tante, wir Beide haben dich etwas zu<lb/>
fragen.&#x201F;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. Was denn, Kinder? Setzt euch näher zu<lb/>
mir, und laßt mich hören.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Mathilde</hi>. Ha&#x017F;t du uns nicht ge&#x017F;agt, jeder<lb/>
Men&#x017F;ch, der nur recht wollte, könne immer ver-<lb/>
&#x017F;tändig und gut &#x017F;eyn? Jeder Men&#x017F;ch, ohne Aus-<lb/>
nahme?</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. Jeder, der recht von Herzen will, kann<lb/>
gut &#x017F;eyn, das habe ich ge&#x017F;agt, und &#x017F;o i&#x017F;t es. Kein<lb/>
Men&#x017F;ch i&#x017F;t je in der Nothwendigkeit, &#x017F;chlecht zu<lb/>
&#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jda</hi>. Warum i&#x017F;t denn nun Paul nicht gut?<lb/>
Hat der nicht recht von ganzem Herzen gewollt?<lb/>
O! ich kann das gar nicht begreifen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Jch</hi>. Paul i&#x017F;t nicht bö&#x017F;e. Die &#x017F;chlimme Ge-<lb/>
wohnheit i&#x017F;t nur &#x017F;tärker, als er, und hat ihn, Gott<lb/>
weiß, wie? einmal wieder überra&#x017F;cht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0238] Die beiden Kinder ſaßen ſehr traulich in einem Fenſterbänkchen. Jch ſah, daß ſie viel nach mir hinſahen, als ob ſie etwas auf dem Herzen hät- ten. Mathilde ſtand zuerſt auf, trat zu mir, und ſagte: „Tante, wir Beide haben dich etwas zu fragen.‟ Jch. Was denn, Kinder? Setzt euch näher zu mir, und laßt mich hören. Mathilde. Haſt du uns nicht geſagt, jeder Menſch, der nur recht wollte, könne immer ver- ſtändig und gut ſeyn? Jeder Menſch, ohne Aus- nahme? Jch. Jeder, der recht von Herzen will, kann gut ſeyn, das habe ich geſagt, und ſo iſt es. Kein Menſch iſt je in der Nothwendigkeit, ſchlecht zu ſeyn. Jda. Warum iſt denn nun Paul nicht gut? Hat der nicht recht von ganzem Herzen gewollt? O! ich kann das gar nicht begreifen. Jch. Paul iſt nicht böſe. Die ſchlimme Ge- wohnheit iſt nur ſtärker, als er, und hat ihn, Gott weiß, wie? einmal wieder überraſcht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/238
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/238>, abgerufen am 19.05.2024.