Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

ebene vor uns grünte von neuem, wie im ersten
Frühlingsschmucke. Der Strom schlug seine Sil-
berwellen stolz durch sie hin, und wand sich ge-
waltig schäumend hindurch. Die Kinder füllten
ihre Körbe mit Herbstblumen, die hier in großer
mannichfaltiger Menge wachsen. Jch ließ ihnen
Früchte und Trauben aus dem Weinberge brin-
gen, so viel sie mochten. Mit Sonnenuntergang
stiegen wir auf die Anhöhe hinter den Weinbergen
in den Kastanienwald. O hättest Du nur eine
Stunde mit uns seyn können! Es war ein un-
aussprechlich milder Reiz über die ganze Natur
ausgegossen. Wie eingewurzelt standen die Kin-
der, als sie die Sonne hinter das westliche Ge-
birge versinken sahen. O diese Ruhe, diese Stille
der herbstlichen Natur, wie wirkt sie so wohlthä-
tig! Man fühlt sich im tiefen Frieden mit dem
Universum, wie mit den kleinsten Kreaturen.
Kein Würmchen kann man dann zertreten, die
stille Natur berührt uns so leise, und haucht das
Heilige in uns so heimlich an. Kein Lüftchen und
keine Leidenschaft regt sich.

Platov bot mir schweigend den Arm zum Her-

ebene vor uns grünte von neuem, wie im erſten
Frühlingsſchmucke. Der Strom ſchlug ſeine Sil-
berwellen ſtolz durch ſie hin, und wand ſich ge-
waltig ſchäumend hindurch. Die Kinder füllten
ihre Körbe mit Herbſtblumen, die hier in großer
mannichfaltiger Menge wachſen. Jch ließ ihnen
Früchte und Trauben aus dem Weinberge brin-
gen, ſo viel ſie mochten. Mit Sonnenuntergang
ſtiegen wir auf die Anhöhe hinter den Weinbergen
in den Kaſtanienwald. O hätteſt Du nur eine
Stunde mit uns ſeyn können! Es war ein un-
ausſprechlich milder Reiz über die ganze Natur
ausgegoſſen. Wie eingewurzelt ſtanden die Kin-
der, als ſie die Sonne hinter das weſtliche Ge-
birge verſinken ſahen. O dieſe Ruhe, dieſe Stille
der herbſtlichen Natur, wie wirkt ſie ſo wohlthä-
tig! Man fühlt ſich im tiefen Frieden mit dem
Univerſum, wie mit den kleinſten Kreaturen.
Kein Würmchen kann man dann zertreten, die
ſtille Natur berührt uns ſo leiſe, und haucht das
Heilige in uns ſo heimlich an. Kein Lüftchen und
keine Leidenſchaft regt ſich.

Platov bot mir ſchweigend den Arm zum Her-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0230" n="216"/>
ebene vor uns grünte von neuem, wie im er&#x017F;ten<lb/>
Frühlings&#x017F;chmucke. Der Strom &#x017F;chlug &#x017F;eine Sil-<lb/>
berwellen &#x017F;tolz durch &#x017F;ie hin, und wand &#x017F;ich ge-<lb/>
waltig &#x017F;chäumend hindurch. Die Kinder füllten<lb/>
ihre Körbe mit Herb&#x017F;tblumen, die hier in großer<lb/>
mannichfaltiger Menge wach&#x017F;en. Jch ließ ihnen<lb/>
Früchte und Trauben aus dem Weinberge brin-<lb/>
gen, &#x017F;o viel &#x017F;ie mochten. Mit Sonnenuntergang<lb/>
&#x017F;tiegen wir auf die Anhöhe hinter den Weinbergen<lb/>
in den Ka&#x017F;tanienwald. O hätte&#x017F;t Du nur eine<lb/>
Stunde mit uns &#x017F;eyn können! Es war ein un-<lb/>
aus&#x017F;prechlich milder Reiz über die ganze Natur<lb/>
ausgego&#x017F;&#x017F;en. Wie eingewurzelt &#x017F;tanden die Kin-<lb/>
der, als &#x017F;ie die Sonne hinter das we&#x017F;tliche Ge-<lb/>
birge ver&#x017F;inken &#x017F;ahen. O die&#x017F;e Ruhe, die&#x017F;e Stille<lb/>
der herb&#x017F;tlichen Natur, wie wirkt &#x017F;ie &#x017F;o wohlthä-<lb/>
tig! Man fühlt &#x017F;ich im tiefen Frieden mit dem<lb/>
Univer&#x017F;um, wie mit den klein&#x017F;ten Kreaturen.<lb/>
Kein Würmchen kann man dann zertreten, die<lb/>
&#x017F;tille Natur berührt uns &#x017F;o lei&#x017F;e, und haucht das<lb/>
Heilige in uns &#x017F;o heimlich an. Kein Lüftchen und<lb/>
keine Leiden&#x017F;chaft regt &#x017F;ich.</p><lb/>
          <p>Platov bot mir &#x017F;chweigend den Arm zum Her-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[216/0230] ebene vor uns grünte von neuem, wie im erſten Frühlingsſchmucke. Der Strom ſchlug ſeine Sil- berwellen ſtolz durch ſie hin, und wand ſich ge- waltig ſchäumend hindurch. Die Kinder füllten ihre Körbe mit Herbſtblumen, die hier in großer mannichfaltiger Menge wachſen. Jch ließ ihnen Früchte und Trauben aus dem Weinberge brin- gen, ſo viel ſie mochten. Mit Sonnenuntergang ſtiegen wir auf die Anhöhe hinter den Weinbergen in den Kaſtanienwald. O hätteſt Du nur eine Stunde mit uns ſeyn können! Es war ein un- ausſprechlich milder Reiz über die ganze Natur ausgegoſſen. Wie eingewurzelt ſtanden die Kin- der, als ſie die Sonne hinter das weſtliche Ge- birge verſinken ſahen. O dieſe Ruhe, dieſe Stille der herbſtlichen Natur, wie wirkt ſie ſo wohlthä- tig! Man fühlt ſich im tiefen Frieden mit dem Univerſum, wie mit den kleinſten Kreaturen. Kein Würmchen kann man dann zertreten, die ſtille Natur berührt uns ſo leiſe, und haucht das Heilige in uns ſo heimlich an. Kein Lüftchen und keine Leidenſchaft regt ſich. Platov bot mir ſchweigend den Arm zum Her-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/230
Zitationshilfe: Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/230>, abgerufen am 23.11.2024.