Menschen leicht, zu merken. Jda. O süße Tan- te, schenke Du ihr meinen Kanarienvogel, dann sieht sie doch, daß Du Jda nicht lieber hast. -- Jch. Herzenskind, gib ihn ihr, wenn sie wie- der herauf kommt. -- Das wird ihr Freude machen. Aber thust du es auch recht gern? -- Jda. O ja wohl, Tante, thut Jda das gern. Auf der Stel- le ging sie hin, band ihn von dem Fenster an ih- rer Kommode los, und trug ihn nach Mathildens Platz. Leb wohl, mein Vögelchen, sagte sie, und warf ihm einen Kuß zu; indem kam Ma- thilde herein. -- Mathilde, sagte sie, du mußt auch einen Vogel haben. Willst du den Kanarien- vogel? Jch behalte mein graues Hänschen, nun haben wir jede einen. Mathilde war verlegen, Beschämung und Freude kämpften in ihr. "Lie- be Jda, ich bin nicht so brav wie du, aber ich ha- be dich sehr lieb."
Nun Kinder, so seyd ihr beide mir lieb. Komm, gute Mathilde, hänge dein Vögelchen auf, und pflege es recht achtsam. Laß es ja niemals Noth leiden. Sie versprach, den neuen Pflegesohn recht gut zu halten. --
Menſchen leicht, zu merken. Jda. O ſüße Tan- te, ſchenke Du ihr meinen Kanarienvogel, dann ſieht ſie doch, daß Du Jda nicht lieber haſt. — Jch. Herzenskind, gib ihn ihr, wenn ſie wie- der herauf kommt. — Das wird ihr Freude machen. Aber thuſt du es auch recht gern? — Jda. O ja wohl, Tante, thut Jda das gern. Auf der Stel- le ging ſie hin, band ihn von dem Fenſter an ih- rer Kommode los, und trug ihn nach Mathildens Platz. Leb wohl, mein Vögelchen, ſagte ſie, und warf ihm einen Kuß zu; indem kam Ma- thilde herein. — Mathilde, ſagte ſie, du mußt auch einen Vogel haben. Willſt du den Kanarien- vogel? Jch behalte mein graues Hänschen, nun haben wir jede einen. Mathilde war verlegen, Beſchämung und Freude kämpften in ihr. „Lie- be Jda, ich bin nicht ſo brav wie du, aber ich ha- be dich ſehr lieb.‟
Nun Kinder, ſo ſeyd ihr beide mir lieb. Komm, gute Mathilde, hänge dein Vögelchen auf, und pflege es recht achtſam. Laß es ja niemals Noth leiden. Sie verſprach, den neuen Pflegeſohn recht gut zu halten. —
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Menſchen leicht, zu merken. Jda. O ſüße Tan-
te, ſchenke Du ihr meinen Kanarienvogel, dann
ſieht ſie doch, daß Du Jda nicht lieber haſt. —
Jch. Herzenskind, gib ihn ihr, wenn ſie wie-
der herauf kommt. — Das wird ihr Freude machen.
Aber thuſt du es auch recht gern? — Jda. O ja
wohl, Tante, thut Jda das gern. Auf der Stel-
le ging ſie hin, band ihn von dem Fenſter an ih-
rer Kommode los, und trug ihn nach Mathildens
Platz. Leb wohl, mein Vögelchen, ſagte ſie,
und warf ihm einen Kuß zu; indem kam Ma-
thilde herein. — Mathilde, ſagte ſie, du mußt
auch einen Vogel haben. Willſt du den Kanarien-
vogel? Jch behalte mein graues Hänschen, nun
haben wir jede einen. Mathilde war verlegen,
Beſchämung und Freude kämpften in ihr. „Lie-
be Jda, ich bin nicht ſo brav wie du, aber ich ha-
be dich ſehr lieb.‟
Nun Kinder, ſo ſeyd ihr beide mir lieb. Komm,
gute Mathilde, hänge dein Vögelchen auf, und
pflege es recht achtſam. Laß es ja niemals Noth
leiden. Sie verſprach, den neuen Pflegeſohn
recht gut zu halten. —
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Rudolphi, Caroline Christiane Louise: Gemälde weiblicher Erziehung. Bd. 1. Heidelberg, 1807, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rudolphi_erziehung01_1807/178>, abgerufen am 06.10.2024.
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