Narben ausgeheilt, neue bekommen hat und doch vermissen wir weder etwas oder bemerken wir etwas Ueberzähliges an ihr. Wir wollen uns noch einen recht interessanten Fall erzählen lassen, um das Wort Indi- viduum in Anwendung auf den Baum ganz fallen zu lassen.
Unsere sogenannte italienische Pappel kann bei uns nie anders als durch Stecklinge erzogen werden, weil es in Europa -- vielleicht in botanischen Gärten versteckte einzelne weibliche Exemplare ausgenommen -- nur männliche Pappeln giebt, denn als vor etwa hundert Jahren dieser Baum über Italien und England aus seinem Vaterlande, dem Orient, nach Deutschland kam, so geschah dies durch einen Steckling, der zufällig von einer männlichen Pappel geschnitten worden war. Dieser Steckling ist der Urahne aller italienischen Pappeln, welche in Europa stehen und je gestanden haben, und er ist zugleich das verbindende Glied, wodurch alle diese mit der ostindischen Pappel als Glieder eines unsterblichen sonderbar zertheilten Riesenleibes Eins werden.
Wir dürfen hier nicht etwa einwenden wollen, daß dies doch im Grunde dasselbe sei, als wenn wir die Pappeln aus Samen erzogen hätten. Im Erfolg wohl, aber nicht in der Weise.
Der Same ist gleich dem Thierei bestimmt, sich vom Mutterkörper zu trennen und alle Stufen der Entwickelung durchzumachen, bis ein jenem gleicher Körper daraus geworden ist; das Steckreis ist ein mit der Fortpflanzung und deren Organen nichts zu thun habender Theil des Mutterkörpers, wofür hier vielleicht richtiger Stammkörper zu sagen wäre, ein Theil, der nicht bestimmt ist, sich von jenem zu trennen und selbst- ständig zu machen, und der, wenn er gewaltsam getrennt und unter günstige Bedingungen gebracht worden ist, sogleich in dem Zustande des Stammkörpers fortvegetirt.
Ein Baum und sechs um ihn wachsende Samenpflänzchen und ein Baum und sechs um ihn wachsende Stecklinge sind durchaus nicht dasselbe; das Erstere beruht auf geschlechtlicher Fortpflanzung, das Letztere ist blos Vermehrung, ist ein Zerlegen des ursprünglich Einen, was in seinen Theilen dennoch dasselbe bleibt.
Wenn nun der Baum kein Individuum ist, was ist er dann und wo sind an ihm Individuen?
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Narben ausgeheilt, neue bekommen hat und doch vermiſſen wir weder etwas oder bemerken wir etwas Ueberzähliges an ihr. Wir wollen uns noch einen recht intereſſanten Fall erzählen laſſen, um das Wort Indi- viduum in Anwendung auf den Baum ganz fallen zu laſſen.
Unſere ſogenannte italieniſche Pappel kann bei uns nie anders als durch Stecklinge erzogen werden, weil es in Europa — vielleicht in botaniſchen Gärten verſteckte einzelne weibliche Exemplare ausgenommen — nur männliche Pappeln giebt, denn als vor etwa hundert Jahren dieſer Baum über Italien und England aus ſeinem Vaterlande, dem Orient, nach Deutſchland kam, ſo geſchah dies durch einen Steckling, der zufällig von einer männlichen Pappel geſchnitten worden war. Dieſer Steckling iſt der Urahne aller italieniſchen Pappeln, welche in Europa ſtehen und je geſtanden haben, und er iſt zugleich das verbindende Glied, wodurch alle dieſe mit der oſtindiſchen Pappel als Glieder eines unſterblichen ſonderbar zertheilten Rieſenleibes Eins werden.
Wir dürfen hier nicht etwa einwenden wollen, daß dies doch im Grunde daſſelbe ſei, als wenn wir die Pappeln aus Samen erzogen hätten. Im Erfolg wohl, aber nicht in der Weiſe.
Der Same iſt gleich dem Thierei beſtimmt, ſich vom Mutterkörper zu trennen und alle Stufen der Entwickelung durchzumachen, bis ein jenem gleicher Körper daraus geworden iſt; das Steckreis iſt ein mit der Fortpflanzung und deren Organen nichts zu thun habender Theil des Mutterkörpers, wofür hier vielleicht richtiger Stammkörper zu ſagen wäre, ein Theil, der nicht beſtimmt iſt, ſich von jenem zu trennen und ſelbſt- ſtändig zu machen, und der, wenn er gewaltſam getrennt und unter günſtige Bedingungen gebracht worden iſt, ſogleich in dem Zuſtande des Stammkörpers fortvegetirt.
Ein Baum und ſechs um ihn wachſende Samenpflänzchen und ein Baum und ſechs um ihn wachſende Stecklinge ſind durchaus nicht daſſelbe; das Erſtere beruht auf geſchlechtlicher Fortpflanzung, das Letztere iſt blos Vermehrung, iſt ein Zerlegen des urſprünglich Einen, was in ſeinen Theilen dennoch daſſelbe bleibt.
Wenn nun der Baum kein Individuum iſt, was iſt er dann und wo ſind an ihm Individuen?
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Narben ausgeheilt, neue bekommen hat und doch vermiſſen wir weder
etwas oder bemerken wir etwas Ueberzähliges an ihr. Wir wollen uns
noch einen recht intereſſanten Fall erzählen laſſen, um das Wort Indi-
viduum in Anwendung auf den Baum ganz fallen zu laſſen.
Unſere ſogenannte italieniſche Pappel kann bei uns nie anders als
durch Stecklinge erzogen werden, weil es in Europa — vielleicht in
botaniſchen Gärten verſteckte einzelne weibliche Exemplare ausgenommen —
nur männliche Pappeln giebt, denn als vor etwa hundert Jahren dieſer
Baum über Italien und England aus ſeinem Vaterlande, dem Orient,
nach Deutſchland kam, ſo geſchah dies durch einen Steckling, der zufällig
von einer männlichen Pappel geſchnitten worden war. Dieſer Steckling
iſt der Urahne aller italieniſchen Pappeln, welche in Europa ſtehen und
je geſtanden haben, und er iſt zugleich das verbindende Glied, wodurch
alle dieſe mit der oſtindiſchen Pappel als Glieder eines unſterblichen
ſonderbar zertheilten Rieſenleibes Eins werden.
Wir dürfen hier nicht etwa einwenden wollen, daß dies doch im
Grunde daſſelbe ſei, als wenn wir die Pappeln aus Samen erzogen
hätten. Im Erfolg wohl, aber nicht in der Weiſe.
Der Same iſt gleich dem Thierei beſtimmt, ſich vom Mutterkörper
zu trennen und alle Stufen der Entwickelung durchzumachen, bis ein
jenem gleicher Körper daraus geworden iſt; das Steckreis iſt ein mit der
Fortpflanzung und deren Organen nichts zu thun habender Theil des
Mutterkörpers, wofür hier vielleicht richtiger Stammkörper zu ſagen wäre,
ein Theil, der nicht beſtimmt iſt, ſich von jenem zu trennen und ſelbſt-
ſtändig zu machen, und der, wenn er gewaltſam getrennt und unter
günſtige Bedingungen gebracht worden iſt, ſogleich in dem Zuſtande des
Stammkörpers fortvegetirt.
Ein Baum und ſechs um ihn wachſende Samenpflänzchen und ein
Baum und ſechs um ihn wachſende Stecklinge ſind durchaus nicht daſſelbe;
das Erſtere beruht auf geſchlechtlicher Fortpflanzung, das Letztere iſt
blos Vermehrung, iſt ein Zerlegen des urſprünglich Einen, was in
ſeinen Theilen dennoch daſſelbe bleibt.
Wenn nun der Baum kein Individuum iſt, was iſt er dann und
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/43>, abgerufen am 22.12.2024.
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