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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

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dürfen sogar verschiedenen Arten, selbst Gattungen angehören. Die edeln
Zwergbirnbäumchen erzieht man meist so, daß man die Birnreiser auf
Quittenbäumchen pfropft.

Gewissermaßen ein natürliches Okuliren ist die Fortpflanzungsweise
der Mistel und anderer echter Schmarotzer. Die weißen Beeren derselben
sind mit einem sehr klebrigen Schleim erfüllt, durch welchen die von ihm
eingehüllten Samenkerne an einem Baumzweige kleben bleiben, mögen sie
nun an demselben Baume von einem höher auf diesem wachsenden Mistel-
busch reif herabfallen oder mag die Misteldrossel, Turdus viscivorus, zu
der Aussaat behülflich sein. Nur der auf Zweige lebender Bäume fallende
Mistelsame keimt, der Keim dringt durch die Rinde und die Wurzeln
verbreiten sich zwischen ihr und dem Holze und wachsen nach und nach
scheinbar in letzteres hinein, während in Wahrheit vielmehr die alljährlich
zuwachsenden Holzlagen die Mistelwurzel immer tiefer in sich begraben.
Alle Nahrung zieht die Mistel nun aus dem Holzkörper ihres Ernährers
und Trägers, und die Mistel ist in Form und Farbe ihrer Theile und
in der Hauptsache ohne Zweifel auch in ihrer chemischen Beschaffenheit
stets dieselbe, mag sie nun auf einer Tanne oder einer Linde oder einem
Apfelbaume wachsen.

Alle diese Fälle beweisen, daß der Stamm erstens zum größten Theile
vollständig verwest sein kann und sich dennoch noch viele Jahre lang
jährlich ganz gesunde Blätter, Blüthen und Früchte darauf entwickeln,
und zweitens, daß der Stamm keinen Form und Mischung bedingenden
Einfluß auf letztere ausübt.

Was ist nun also ein Baum?

Daß er kein Individuum sei, haben wir zwar schon vorhin gesagt,
aber wir sind jetzt darüber klarer geworden. Schon das Wort läßt es
nicht zu, den Baum so zu nennen, denn Individuum heißt doch etwas
Untheilbares in dem Sinne, daß eine mechanische Theilung -- die natürlich,
wie mit jedem Körper, so auch mit ihm vorgenommen werden kann -- ein
Verstümmeln, ein Aufheben seiner Vollständigkeit bedingt. Wir haben aber
gesehen, daß ein Baum zu keiner Zeit seines Lebens ein solches in sich
abgeschlossenes unantastbares Ganzes ist. Wir wissen, daß eine alte drei-
hundertjährige Eiche, die in ihrer mächtigen Pracht vor uns steht, in
ihrem langen wechselvollen Leben sehr viele Aeste und Zweige verloren, die

dürfen ſogar verſchiedenen Arten, ſelbſt Gattungen angehören. Die edeln
Zwergbirnbäumchen erzieht man meiſt ſo, daß man die Birnreiſer auf
Quittenbäumchen pfropft.

Gewiſſermaßen ein natürliches Okuliren iſt die Fortpflanzungsweiſe
der Miſtel und anderer echter Schmarotzer. Die weißen Beeren derſelben
ſind mit einem ſehr klebrigen Schleim erfüllt, durch welchen die von ihm
eingehüllten Samenkerne an einem Baumzweige kleben bleiben, mögen ſie
nun an demſelben Baume von einem höher auf dieſem wachſenden Miſtel-
buſch reif herabfallen oder mag die Miſteldroſſel, Turdus viscivorus, zu
der Ausſaat behülflich ſein. Nur der auf Zweige lebender Bäume fallende
Miſtelſame keimt, der Keim dringt durch die Rinde und die Wurzeln
verbreiten ſich zwiſchen ihr und dem Holze und wachſen nach und nach
ſcheinbar in letzteres hinein, während in Wahrheit vielmehr die alljährlich
zuwachſenden Holzlagen die Miſtelwurzel immer tiefer in ſich begraben.
Alle Nahrung zieht die Miſtel nun aus dem Holzkörper ihres Ernährers
und Trägers, und die Miſtel iſt in Form und Farbe ihrer Theile und
in der Hauptſache ohne Zweifel auch in ihrer chemiſchen Beſchaffenheit
ſtets dieſelbe, mag ſie nun auf einer Tanne oder einer Linde oder einem
Apfelbaume wachſen.

Alle dieſe Fälle beweiſen, daß der Stamm erſtens zum größten Theile
vollſtändig verweſt ſein kann und ſich dennoch noch viele Jahre lang
jährlich ganz geſunde Blätter, Blüthen und Früchte darauf entwickeln,
und zweitens, daß der Stamm keinen Form und Miſchung bedingenden
Einfluß auf letztere ausübt.

Was iſt nun alſo ein Baum?

Daß er kein Individuum ſei, haben wir zwar ſchon vorhin geſagt,
aber wir ſind jetzt darüber klarer geworden. Schon das Wort läßt es
nicht zu, den Baum ſo zu nennen, denn Individuum heißt doch etwas
Untheilbares in dem Sinne, daß eine mechaniſche Theilung — die natürlich,
wie mit jedem Körper, ſo auch mit ihm vorgenommen werden kann — ein
Verſtümmeln, ein Aufheben ſeiner Vollſtändigkeit bedingt. Wir haben aber
geſehen, daß ein Baum zu keiner Zeit ſeines Lebens ein ſolches in ſich
abgeſchloſſenes unantaſtbares Ganzes iſt. Wir wiſſen, daß eine alte drei-
hundertjährige Eiche, die in ihrer mächtigen Pracht vor uns ſteht, in
ihrem langen wechſelvollen Leben ſehr viele Aeſte und Zweige verloren, die

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[18/0042] dürfen ſogar verſchiedenen Arten, ſelbſt Gattungen angehören. Die edeln Zwergbirnbäumchen erzieht man meiſt ſo, daß man die Birnreiſer auf Quittenbäumchen pfropft. Gewiſſermaßen ein natürliches Okuliren iſt die Fortpflanzungsweiſe der Miſtel und anderer echter Schmarotzer. Die weißen Beeren derſelben ſind mit einem ſehr klebrigen Schleim erfüllt, durch welchen die von ihm eingehüllten Samenkerne an einem Baumzweige kleben bleiben, mögen ſie nun an demſelben Baume von einem höher auf dieſem wachſenden Miſtel- buſch reif herabfallen oder mag die Miſteldroſſel, Turdus viscivorus, zu der Ausſaat behülflich ſein. Nur der auf Zweige lebender Bäume fallende Miſtelſame keimt, der Keim dringt durch die Rinde und die Wurzeln verbreiten ſich zwiſchen ihr und dem Holze und wachſen nach und nach ſcheinbar in letzteres hinein, während in Wahrheit vielmehr die alljährlich zuwachſenden Holzlagen die Miſtelwurzel immer tiefer in ſich begraben. Alle Nahrung zieht die Miſtel nun aus dem Holzkörper ihres Ernährers und Trägers, und die Miſtel iſt in Form und Farbe ihrer Theile und in der Hauptſache ohne Zweifel auch in ihrer chemiſchen Beſchaffenheit ſtets dieſelbe, mag ſie nun auf einer Tanne oder einer Linde oder einem Apfelbaume wachſen. Alle dieſe Fälle beweiſen, daß der Stamm erſtens zum größten Theile vollſtändig verweſt ſein kann und ſich dennoch noch viele Jahre lang jährlich ganz geſunde Blätter, Blüthen und Früchte darauf entwickeln, und zweitens, daß der Stamm keinen Form und Miſchung bedingenden Einfluß auf letztere ausübt. Was iſt nun alſo ein Baum? Daß er kein Individuum ſei, haben wir zwar ſchon vorhin geſagt, aber wir ſind jetzt darüber klarer geworden. Schon das Wort läßt es nicht zu, den Baum ſo zu nennen, denn Individuum heißt doch etwas Untheilbares in dem Sinne, daß eine mechaniſche Theilung — die natürlich, wie mit jedem Körper, ſo auch mit ihm vorgenommen werden kann — ein Verſtümmeln, ein Aufheben ſeiner Vollſtändigkeit bedingt. Wir haben aber geſehen, daß ein Baum zu keiner Zeit ſeines Lebens ein ſolches in ſich abgeſchloſſenes unantaſtbares Ganzes iſt. Wir wiſſen, daß eine alte drei- hundertjährige Eiche, die in ihrer mächtigen Pracht vor uns ſteht, in ihrem langen wechſelvollen Leben ſehr viele Aeſte und Zweige verloren, die

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Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/42>, abgerufen am 22.12.2024.