Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863.

Bild:
<< vorherige Seite

Das ist eine wissenschaftliche Streitfrage, über welche auch heute
noch Meinungsverschiedenheit besteht. Wir wollen die verschiedenen An-
sichten hier nicht gegen einander abwägen, sondern wollen versuchen, eine
Auffassung annehmbar zu machen.

Man darf, an Decandolle anschließend, wenigstens ist mir dies
seit langer Zeit das Annehmbarste geschienen, am Baume zweierlei Indi-
viduen unterscheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord-
nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen sich in ihrer Weise
fort und wirken dabei verschieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen
die Knospen und sorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die
Blüthen erzeugen die Samen und sorgen dadurch für die Gründung
neuer Bäume ihrer Art. Für diese selbstständigen Weseneinheiten am
Baume ist dessen Holzkörper gewissermaßen ein organische Form annehmender
Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demselben Schritte
in Rückbildung wieder anorganische Form annimmt, in welchem ihm äußerlich
unter der Rinde neue Holzlagen zuwachsen. Die pflanzenschaffende Natur
gewinnt so eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während sie
Tausende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die verästelte
Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen
Raum.

Für unsere Schilderung des Waldes kann diese Auffassung vorläufig
genügen und uns ist demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei
Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver-
größern, die andern fortdauernd Auswanderer aussenden, neue Colonien
zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich-
kommen sollen.

Wir lassen es uns jetzt von der strengen Wissenschaft nicht verbieten,
uns in das Baumverständniß an diesem Gleichnisse zu vertiefen und indem
wir dieses zergliedern, finden wir seine Berechtigung größer, als es uns
im ersten Augenblicke vielleicht erschien.

Die Landwirthschaft, so oft und mit Recht die Hauptstütze der Staats-
gesellschaft genannt, denn sie schafft dieser die erste Bedingung des Be-
stehens herbei, sie müssen wir am Baume in seiner Wurzel repräsentirt
finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, sei es das Brodkorn, der Ge-
webstoff zu unsern Kleidern, Fleisch, Haut und Wolle seiner Thiere,

Das iſt eine wiſſenſchaftliche Streitfrage, über welche auch heute
noch Meinungsverſchiedenheit beſteht. Wir wollen die verſchiedenen An-
ſichten hier nicht gegen einander abwägen, ſondern wollen verſuchen, eine
Auffaſſung annehmbar zu machen.

Man darf, an Decandolle anſchließend, wenigſtens iſt mir dies
ſeit langer Zeit das Annehmbarſte geſchienen, am Baume zweierlei Indi-
viduen unterſcheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord-
nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen ſich in ihrer Weiſe
fort und wirken dabei verſchieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen
die Knospen und ſorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die
Blüthen erzeugen die Samen und ſorgen dadurch für die Gründung
neuer Bäume ihrer Art. Für dieſe ſelbſtſtändigen Weſeneinheiten am
Baume iſt deſſen Holzkörper gewiſſermaßen ein organiſche Form annehmender
Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demſelben Schritte
in Rückbildung wieder anorganiſche Form annimmt, in welchem ihm äußerlich
unter der Rinde neue Holzlagen zuwachſen. Die pflanzenſchaffende Natur
gewinnt ſo eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während ſie
Tauſende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die veräſtelte
Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen
Raum.

Für unſere Schilderung des Waldes kann dieſe Auffaſſung vorläufig
genügen und uns iſt demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei
Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver-
größern, die andern fortdauernd Auswanderer ausſenden, neue Colonien
zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich-
kommen ſollen.

Wir laſſen es uns jetzt von der ſtrengen Wiſſenſchaft nicht verbieten,
uns in das Baumverſtändniß an dieſem Gleichniſſe zu vertiefen und indem
wir dieſes zergliedern, finden wir ſeine Berechtigung größer, als es uns
im erſten Augenblicke vielleicht erſchien.

Die Landwirthſchaft, ſo oft und mit Recht die Hauptſtütze der Staats-
geſellſchaft genannt, denn ſie ſchafft dieſer die erſte Bedingung des Be-
ſtehens herbei, ſie müſſen wir am Baume in ſeiner Wurzel repräſentirt
finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, ſei es das Brodkorn, der Ge-
webſtoff zu unſern Kleidern, Fleiſch, Haut und Wolle ſeiner Thiere,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0044" n="20"/>
          <p>Das i&#x017F;t eine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Streitfrage, über welche auch heute<lb/>
noch Meinungsver&#x017F;chiedenheit be&#x017F;teht. Wir wollen die ver&#x017F;chiedenen An-<lb/>
&#x017F;ichten hier nicht gegen einander abwägen, &#x017F;ondern wollen ver&#x017F;uchen, eine<lb/>
Auffa&#x017F;&#x017F;ung annehmbar zu machen.</p><lb/>
          <p>Man darf, an <hi rendition="#g">Decandolle</hi> an&#x017F;chließend, wenig&#x017F;tens i&#x017F;t mir dies<lb/>
&#x017F;eit langer Zeit das Annehmbar&#x017F;te ge&#x017F;chienen, am Baume zweierlei Indi-<lb/>
viduen unter&#x017F;cheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord-<lb/>
nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen &#x017F;ich in ihrer Wei&#x017F;e<lb/>
fort und wirken dabei ver&#x017F;chieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen<lb/>
die Knospen und &#x017F;orgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die<lb/>
Blüthen erzeugen die Samen und &#x017F;orgen dadurch für die Gründung<lb/>
neuer Bäume ihrer Art. Für die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändigen We&#x017F;eneinheiten am<lb/>
Baume i&#x017F;t de&#x017F;&#x017F;en Holzkörper gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen ein organi&#x017F;che Form annehmender<lb/>
Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in dem&#x017F;elben Schritte<lb/>
in Rückbildung wieder anorgani&#x017F;che Form annimmt, in welchem ihm äußerlich<lb/>
unter der Rinde neue Holzlagen zuwach&#x017F;en. Die pflanzen&#x017F;chaffende Natur<lb/>
gewinnt &#x017F;o eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während &#x017F;ie<lb/>
Tau&#x017F;ende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die verä&#x017F;telte<lb/>
Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen<lb/>
Raum.</p><lb/>
          <p>Für un&#x017F;ere Schilderung des Waldes kann die&#x017F;e Auffa&#x017F;&#x017F;ung vorläufig<lb/>
genügen und uns i&#x017F;t demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei<lb/>
Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver-<lb/>
größern, die andern fortdauernd Auswanderer aus&#x017F;enden, neue Colonien<lb/>
zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich-<lb/>
kommen &#x017F;ollen.</p><lb/>
          <p>Wir la&#x017F;&#x017F;en es uns jetzt von der &#x017F;trengen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nicht verbieten,<lb/>
uns in das Baumver&#x017F;tändniß an die&#x017F;em Gleichni&#x017F;&#x017F;e zu vertiefen und indem<lb/>
wir die&#x017F;es zergliedern, finden wir &#x017F;eine Berechtigung größer, als es uns<lb/>
im er&#x017F;ten Augenblicke vielleicht er&#x017F;chien.</p><lb/>
          <p>Die Landwirth&#x017F;chaft, &#x017F;o oft und mit Recht die Haupt&#x017F;tütze der Staats-<lb/>
ge&#x017F;ell&#x017F;chaft genannt, denn &#x017F;ie &#x017F;chafft die&#x017F;er die er&#x017F;te Bedingung des Be-<lb/>
&#x017F;tehens herbei, &#x017F;ie mü&#x017F;&#x017F;en wir am Baume in &#x017F;einer Wurzel reprä&#x017F;entirt<lb/>
finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, &#x017F;ei es das Brodkorn, der Ge-<lb/>
web&#x017F;toff zu un&#x017F;ern Kleidern, Flei&#x017F;ch, Haut und Wolle &#x017F;einer Thiere,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0044] Das iſt eine wiſſenſchaftliche Streitfrage, über welche auch heute noch Meinungsverſchiedenheit beſteht. Wir wollen die verſchiedenen An- ſichten hier nicht gegen einander abwägen, ſondern wollen verſuchen, eine Auffaſſung annehmbar zu machen. Man darf, an Decandolle anſchließend, wenigſtens iſt mir dies ſeit langer Zeit das Annehmbarſte geſchienen, am Baume zweierlei Indi- viduen unterſcheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord- nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen ſich in ihrer Weiſe fort und wirken dabei verſchieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen die Knospen und ſorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die Blüthen erzeugen die Samen und ſorgen dadurch für die Gründung neuer Bäume ihrer Art. Für dieſe ſelbſtſtändigen Weſeneinheiten am Baume iſt deſſen Holzkörper gewiſſermaßen ein organiſche Form annehmender Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demſelben Schritte in Rückbildung wieder anorganiſche Form annimmt, in welchem ihm äußerlich unter der Rinde neue Holzlagen zuwachſen. Die pflanzenſchaffende Natur gewinnt ſo eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während ſie Tauſende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die veräſtelte Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen Raum. Für unſere Schilderung des Waldes kann dieſe Auffaſſung vorläufig genügen und uns iſt demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver- größern, die andern fortdauernd Auswanderer ausſenden, neue Colonien zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich- kommen ſollen. Wir laſſen es uns jetzt von der ſtrengen Wiſſenſchaft nicht verbieten, uns in das Baumverſtändniß an dieſem Gleichniſſe zu vertiefen und indem wir dieſes zergliedern, finden wir ſeine Berechtigung größer, als es uns im erſten Augenblicke vielleicht erſchien. Die Landwirthſchaft, ſo oft und mit Recht die Hauptſtütze der Staats- geſellſchaft genannt, denn ſie ſchafft dieſer die erſte Bedingung des Be- ſtehens herbei, ſie müſſen wir am Baume in ſeiner Wurzel repräſentirt finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, ſei es das Brodkorn, der Ge- webſtoff zu unſern Kleidern, Fleiſch, Haut und Wolle ſeiner Thiere,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/44
Zitationshilfe: Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/44>, abgerufen am 22.12.2024.