Das ist eine wissenschaftliche Streitfrage, über welche auch heute noch Meinungsverschiedenheit besteht. Wir wollen die verschiedenen An- sichten hier nicht gegen einander abwägen, sondern wollen versuchen, eine Auffassung annehmbar zu machen.
Man darf, an Decandolle anschließend, wenigstens ist mir dies seit langer Zeit das Annehmbarste geschienen, am Baume zweierlei Indi- viduen unterscheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord- nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen sich in ihrer Weise fort und wirken dabei verschieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen die Knospen und sorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die Blüthen erzeugen die Samen und sorgen dadurch für die Gründung neuer Bäume ihrer Art. Für diese selbstständigen Weseneinheiten am Baume ist dessen Holzkörper gewissermaßen ein organische Form annehmender Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demselben Schritte in Rückbildung wieder anorganische Form annimmt, in welchem ihm äußerlich unter der Rinde neue Holzlagen zuwachsen. Die pflanzenschaffende Natur gewinnt so eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während sie Tausende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die verästelte Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen Raum.
Für unsere Schilderung des Waldes kann diese Auffassung vorläufig genügen und uns ist demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver- größern, die andern fortdauernd Auswanderer aussenden, neue Colonien zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich- kommen sollen.
Wir lassen es uns jetzt von der strengen Wissenschaft nicht verbieten, uns in das Baumverständniß an diesem Gleichnisse zu vertiefen und indem wir dieses zergliedern, finden wir seine Berechtigung größer, als es uns im ersten Augenblicke vielleicht erschien.
Die Landwirthschaft, so oft und mit Recht die Hauptstütze der Staats- gesellschaft genannt, denn sie schafft dieser die erste Bedingung des Be- stehens herbei, sie müssen wir am Baume in seiner Wurzel repräsentirt finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, sei es das Brodkorn, der Ge- webstoff zu unsern Kleidern, Fleisch, Haut und Wolle seiner Thiere,
Das iſt eine wiſſenſchaftliche Streitfrage, über welche auch heute noch Meinungsverſchiedenheit beſteht. Wir wollen die verſchiedenen An- ſichten hier nicht gegen einander abwägen, ſondern wollen verſuchen, eine Auffaſſung annehmbar zu machen.
Man darf, an Decandolle anſchließend, wenigſtens iſt mir dies ſeit langer Zeit das Annehmbarſte geſchienen, am Baume zweierlei Indi- viduen unterſcheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord- nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen ſich in ihrer Weiſe fort und wirken dabei verſchieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen die Knospen und ſorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die Blüthen erzeugen die Samen und ſorgen dadurch für die Gründung neuer Bäume ihrer Art. Für dieſe ſelbſtſtändigen Weſeneinheiten am Baume iſt deſſen Holzkörper gewiſſermaßen ein organiſche Form annehmender Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demſelben Schritte in Rückbildung wieder anorganiſche Form annimmt, in welchem ihm äußerlich unter der Rinde neue Holzlagen zuwachſen. Die pflanzenſchaffende Natur gewinnt ſo eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während ſie Tauſende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die veräſtelte Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen Raum.
Für unſere Schilderung des Waldes kann dieſe Auffaſſung vorläufig genügen und uns iſt demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver- größern, die andern fortdauernd Auswanderer ausſenden, neue Colonien zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich- kommen ſollen.
Wir laſſen es uns jetzt von der ſtrengen Wiſſenſchaft nicht verbieten, uns in das Baumverſtändniß an dieſem Gleichniſſe zu vertiefen und indem wir dieſes zergliedern, finden wir ſeine Berechtigung größer, als es uns im erſten Augenblicke vielleicht erſchien.
Die Landwirthſchaft, ſo oft und mit Recht die Hauptſtütze der Staats- geſellſchaft genannt, denn ſie ſchafft dieſer die erſte Bedingung des Be- ſtehens herbei, ſie müſſen wir am Baume in ſeiner Wurzel repräſentirt finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, ſei es das Brodkorn, der Ge- webſtoff zu unſern Kleidern, Fleiſch, Haut und Wolle ſeiner Thiere,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0044"n="20"/><p>Das iſt eine wiſſenſchaftliche Streitfrage, über welche auch heute<lb/>
noch Meinungsverſchiedenheit beſteht. Wir wollen die verſchiedenen An-<lb/>ſichten hier nicht gegen einander abwägen, ſondern wollen verſuchen, eine<lb/>
Auffaſſung annehmbar zu machen.</p><lb/><p>Man darf, an <hirendition="#g">Decandolle</hi> anſchließend, wenigſtens iſt mir dies<lb/>ſeit langer Zeit das Annehmbarſte geſchienen, am Baume zweierlei Indi-<lb/>
viduen unterſcheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord-<lb/>
nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen ſich in ihrer Weiſe<lb/>
fort und wirken dabei verſchieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen<lb/>
die Knospen und ſorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die<lb/>
Blüthen erzeugen die Samen und ſorgen dadurch für die Gründung<lb/>
neuer Bäume ihrer Art. Für dieſe ſelbſtſtändigen Weſeneinheiten am<lb/>
Baume iſt deſſen Holzkörper gewiſſermaßen ein organiſche Form annehmender<lb/>
Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demſelben Schritte<lb/>
in Rückbildung wieder anorganiſche Form annimmt, in welchem ihm äußerlich<lb/>
unter der Rinde neue Holzlagen zuwachſen. Die pflanzenſchaffende Natur<lb/>
gewinnt ſo eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während ſie<lb/>
Tauſende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die veräſtelte<lb/>
Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen<lb/>
Raum.</p><lb/><p>Für unſere Schilderung des Waldes kann dieſe Auffaſſung vorläufig<lb/>
genügen und uns iſt demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei<lb/>
Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver-<lb/>
größern, die andern fortdauernd Auswanderer ausſenden, neue Colonien<lb/>
zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich-<lb/>
kommen ſollen.</p><lb/><p>Wir laſſen es uns jetzt von der ſtrengen Wiſſenſchaft nicht verbieten,<lb/>
uns in das Baumverſtändniß an dieſem Gleichniſſe zu vertiefen und indem<lb/>
wir dieſes zergliedern, finden wir ſeine Berechtigung größer, als es uns<lb/>
im erſten Augenblicke vielleicht erſchien.</p><lb/><p>Die Landwirthſchaft, ſo oft und mit Recht die Hauptſtütze der Staats-<lb/>
geſellſchaft genannt, denn ſie ſchafft dieſer die erſte Bedingung des Be-<lb/>ſtehens herbei, ſie müſſen wir am Baume in ſeiner Wurzel repräſentirt<lb/>
finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, ſei es das Brodkorn, der Ge-<lb/>
webſtoff zu unſern Kleidern, Fleiſch, Haut und Wolle ſeiner Thiere,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[20/0044]
Das iſt eine wiſſenſchaftliche Streitfrage, über welche auch heute
noch Meinungsverſchiedenheit beſteht. Wir wollen die verſchiedenen An-
ſichten hier nicht gegen einander abwägen, ſondern wollen verſuchen, eine
Auffaſſung annehmbar zu machen.
Man darf, an Decandolle anſchließend, wenigſtens iſt mir dies
ſeit langer Zeit das Annehmbarſte geſchienen, am Baume zweierlei Indi-
viduen unterſcheiden, von einer niedern und von einer höhern Rangord-
nung: Die Blätter und die Blüthen. Beide pflanzen ſich in ihrer Weiſe
fort und wirken dabei verſchieden für die Zukunft. Die Blätter erzeugen
die Knospen und ſorgen dadurch für die Vergrößerung des Baumes, die
Blüthen erzeugen die Samen und ſorgen dadurch für die Gründung
neuer Bäume ihrer Art. Für dieſe ſelbſtſtändigen Weſeneinheiten am
Baume iſt deſſen Holzkörper gewiſſermaßen ein organiſche Form annehmender
Boden, welcher am inwendig ausfaulenden Baume in demſelben Schritte
in Rückbildung wieder anorganiſche Form annimmt, in welchem ihm äußerlich
unter der Rinde neue Holzlagen zuwachſen. Die pflanzenſchaffende Natur
gewinnt ſo eine doppelte Benutzung der Erdoberfläche. Während ſie
Tauſende von Blättern und Blüthen hoch empor hebt in die veräſtelte
Krone, finden kaum weniger niedere Pflanzen um den Stamm gedeihlichen
Raum.
Für unſere Schilderung des Waldes kann dieſe Auffaſſung vorläufig
genügen und uns iſt demnach der Baum ein Staat, welcher zweierlei
Bürger zählt, von denen die einen das Staatsgebiet fortdauernd ver-
größern, die andern fortdauernd Auswanderer ausſenden, neue Colonien
zu gründen, die zuletzt dem Mutterlande an Größe und Schönheit gleich-
kommen ſollen.
Wir laſſen es uns jetzt von der ſtrengen Wiſſenſchaft nicht verbieten,
uns in das Baumverſtändniß an dieſem Gleichniſſe zu vertiefen und indem
wir dieſes zergliedern, finden wir ſeine Berechtigung größer, als es uns
im erſten Augenblicke vielleicht erſchien.
Die Landwirthſchaft, ſo oft und mit Recht die Hauptſtütze der Staats-
geſellſchaft genannt, denn ſie ſchafft dieſer die erſte Bedingung des Be-
ſtehens herbei, ſie müſſen wir am Baume in ſeiner Wurzel repräſentirt
finden. Das Erzeugniß des Landwirthes, ſei es das Brodkorn, der Ge-
webſtoff zu unſern Kleidern, Fleiſch, Haut und Wolle ſeiner Thiere,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/44>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.