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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

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Funfzehnte Betr. Von der

Eine Erkenntnis von einem so unermeßlichen
und unumschränkten Umfange, können wir uns
zwar unmöglich in ihrer ganzen Größe vorstellen.
Dieses Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu
hoch,
bekennet David, ich kann es nicht begrei-
fen.
Aber ohne diese Allwißenheit würde Gott
nicht seyn. Daß wir alles nur stückweise, einzeln
und nach und nach erkennen, dieß rührt von uns-
rer eingeschränkten Gegenwart, von unsrer End-
lichkeit her. Aber der Unendliche muß nothwen-
dig auch in seiner Erkenntnis unendlich seyn, muß
nothwendig auch die Herzen der Menschen kennen;
denn wenn er uns nur nach dem Aeußerlichen be-
urtheilen müste, wie oft könnte er von uns hin-
tergangen werden, und wie gering würde der Werth
eines rechtschaffenen Herzens seyn? Der Schein-
heilige und Heuchler wäre dann der Klügste unter
den Sterblichen; denn er brauchte seinen Begierden
gar nicht wehe zu thun, er könnte nur mit schein-
heiligen Worten, und einigen glänzenden Hand-
lungen, die ihm keine Mühe kosteten, sich das Lob
der Welt und den Beyfall Gottes zugleich erwer-
ben. Wie könnte Gott bey so bewandten Umstän-
den die Welt richten? Herr, du weißest meine
Gedanken von ferne -- Und Gott wird auch der-
einst aus Licht bringen, was im Finstern verborgen
ist. 1 Korinth. 4, 5. Doch, bey einer so deut-
lichen Wahrheit würde alle Weitläuftigkeit über-
flüßig seyn. Nöthiger ist es, daß wir uns diese
Wahrheit recht zu Nutze machen. Merke dir dem-
nach, mein lieber Christ, einige Lebensregeln, die
aus der Lehre von der Allwißenheit Gottes auf eine

ganz
Funfzehnte Betr. Von der

Eine Erkenntnis von einem ſo unermeßlichen
und unumſchränkten Umfange, können wir uns
zwar unmöglich in ihrer ganzen Größe vorſtellen.
Dieſes Erkenntnis iſt mir zu wunderlich und zu
hoch,
bekennet David, ich kann es nicht begrei-
fen.
Aber ohne dieſe Allwißenheit würde Gott
nicht ſeyn. Daß wir alles nur ſtückweiſe, einzeln
und nach und nach erkennen, dieß rührt von unſ-
rer eingeſchränkten Gegenwart, von unſrer End-
lichkeit her. Aber der Unendliche muß nothwen-
dig auch in ſeiner Erkenntnis unendlich ſeyn, muß
nothwendig auch die Herzen der Menſchen kennen;
denn wenn er uns nur nach dem Aeußerlichen be-
urtheilen müſte, wie oft könnte er von uns hin-
tergangen werden, und wie gering würde der Werth
eines rechtſchaffenen Herzens ſeyn? Der Schein-
heilige und Heuchler wäre dann der Klügſte unter
den Sterblichen; denn er brauchte ſeinen Begierden
gar nicht wehe zu thun, er könnte nur mit ſchein-
heiligen Worten, und einigen glänzenden Hand-
lungen, die ihm keine Mühe koſteten, ſich das Lob
der Welt und den Beyfall Gottes zugleich erwer-
ben. Wie könnte Gott bey ſo bewandten Umſtän-
den die Welt richten? Herr, du weißeſt meine
Gedanken von ferne — Und Gott wird auch der-
einſt aus Licht bringen, was im Finſtern verborgen
iſt. 1 Korinth. 4, 5. Doch, bey einer ſo deut-
lichen Wahrheit würde alle Weitläuftigkeit über-
flüßig ſeyn. Nöthiger iſt es, daß wir uns dieſe
Wahrheit recht zu Nutze machen. Merke dir dem-
nach, mein lieber Chriſt, einige Lebensregeln, die
aus der Lehre von der Allwißenheit Gottes auf eine

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[228/0240] Funfzehnte Betr. Von der Eine Erkenntnis von einem ſo unermeßlichen und unumſchränkten Umfange, können wir uns zwar unmöglich in ihrer ganzen Größe vorſtellen. Dieſes Erkenntnis iſt mir zu wunderlich und zu hoch, bekennet David, ich kann es nicht begrei- fen. Aber ohne dieſe Allwißenheit würde Gott nicht ſeyn. Daß wir alles nur ſtückweiſe, einzeln und nach und nach erkennen, dieß rührt von unſ- rer eingeſchränkten Gegenwart, von unſrer End- lichkeit her. Aber der Unendliche muß nothwen- dig auch in ſeiner Erkenntnis unendlich ſeyn, muß nothwendig auch die Herzen der Menſchen kennen; denn wenn er uns nur nach dem Aeußerlichen be- urtheilen müſte, wie oft könnte er von uns hin- tergangen werden, und wie gering würde der Werth eines rechtſchaffenen Herzens ſeyn? Der Schein- heilige und Heuchler wäre dann der Klügſte unter den Sterblichen; denn er brauchte ſeinen Begierden gar nicht wehe zu thun, er könnte nur mit ſchein- heiligen Worten, und einigen glänzenden Hand- lungen, die ihm keine Mühe koſteten, ſich das Lob der Welt und den Beyfall Gottes zugleich erwer- ben. Wie könnte Gott bey ſo bewandten Umſtän- den die Welt richten? Herr, du weißeſt meine Gedanken von ferne — Und Gott wird auch der- einſt aus Licht bringen, was im Finſtern verborgen iſt. 1 Korinth. 4, 5. Doch, bey einer ſo deut- lichen Wahrheit würde alle Weitläuftigkeit über- flüßig ſeyn. Nöthiger iſt es, daß wir uns dieſe Wahrheit recht zu Nutze machen. Merke dir dem- nach, mein lieber Chriſt, einige Lebensregeln, die aus der Lehre von der Allwißenheit Gottes auf eine ganz

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Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/240>, abgerufen am 24.11.2024.